Zeitschrift Aufsätze

Ronen Reichman

Die Stellung des Ma’ase (Präjudizes) im Talmud


Fragestellung, Vorgehensweise und Grundthese

Die zweistufige Strukturiertheit in der Rezeption des Präjudizes

Das Element der Entscheidungsrichtigkeit

Ansätze dezisionistischer Rechtsauffassung im Talmud und ihre relative Geltung

Entscheidungsrichtigkeit vs. Rechtssicherheit: Versuch eines Kompromisses

Der Spruch Ravas und das Paradigma von der zweistufigen Struktur in der Rezeption des Präjudizes

Der Ma’ase-Bericht in der Mishna

Auswertung des Präjudizes in einem gegebenen Fall: die Relevanz- und Gewichtungsfrage

Die Relevanzfrage: das induktive (analoge) Schlussverfahren

Einschränkung der Anwendbarkeit des Analogieschlusses und ihre Aufhebung

Auswertung des Präjudizes: Die Gewichtungsfrage

Schlußwort

Fragestellung, Vorgehensweise und Grundthese

Das hebräische Wort Ma’ase2) und das aramäische Äquivalent Uvda werden in der rabbinischen Literatur als Einleitungsformel verwendet, um die Dokumentation von Entscheidungen in Einzelfällen einzuführen, die entweder von einem Gelehrten im Hinblick auf sein eigenes Verhalten oder als gerichtliche Entscheidungen getroffen wurden. Ma’ase (= Uvda) kennzeichnet also in historisch-literarischer Hinsicht eine Überlieferungsform, welche zunächst die Funktion eines Berichtes erfüllt. Der Inhalt dieses Berichts, die Entscheidung im Einzelfall, wird zu einem Präjudiz, sobald die Rechtsfrage, über die bereits in dem berichteten Vorfall entschieden worden ist, neu entschieden werden soll3). 1
Die Frage, welche Art von Verbindlichkeit (wenn überhaupt) Präjudizien im rabbinischen Rechtskreis zukommt, ist hier allerdings allgemein zu besprechen: Es wäre nämlich methodisch inkorrekt, die Geltungsfrage von Präjudizien nur in bezug auf solche zu beziehen, die schon in dem oben erwähnten Sinn zu etablierten Lehreinheiten geworden sind. Diese haben ja schon bestimmte Hürden im Prozess ihrer Rezeption durchgemacht, wie davon die Entscheidung, sie in den talmudischen Korpus aufzunehmen zeugt. Mir geht es aber darum, diesen Prozess in seinem vollständigen Ablauf zu verfolgen. Zudem gilt es, die kontextuelle Unterscheidung zwischen dem konkreten Rechtsfindungsprozess (in der Rechtsprechung) und dem theoretisch-juristischen Rechtsbildungsprozess (in den babylonischen Akademien) ins Auge zu fassen, womit unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung die Frage nach der Stellung der Präjudizien ebenfalls weit gefaßt werden soll. 2
Eine Antwort auf diese grundsätzliche Frage soll methodisch sowohl Ansätze rabbinischer Rechtsdogmatik (wie reflektieren die Rabbinen selbst über die Bindungswirkung ihrer Rechtsquellen?) als auch die Rechtspraxis berücksichtigen, soweit diese dokumentiert wird. Eine große Zahl von Hinweisen läßt sich in dieser Hinsicht heranziehen, doch diese müssen darüber hinaus in einen rechtstheoretischen Reflexionszusammenhang eingebunden werden. In dem vorliegenden, knappen Rahmen werde ich auf einige Aspekte hinweisen, um darzulegen, dass Präjudizien nach rabbinischem Recht keine unmittelbare Geltung zukommt und ich werde versuchen zu erörtern, inwiefern diese Behauptung zu verstehen ist. Der Grundgedanke ist simpel: Die Rezeption des Präjudizes beinhaltet einen diskursiven Vorgang, in dem erst und in ganz grundsätzlicher Weise der potentielle normative Gehalt des Präjudizes zur Entfaltung kommen kann. Es ist die Herrschaft des Diskurses, ein prägendes Kennzeichen rabbinischer Rationalität, die zur Folge hat, dass die Rede von unmittelbarer Geltung auf die richterliche Entscheidung nicht zutreffen kann. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine spezifische Eigenart, die allein dem Präjudiz zukommt. Die Normativität jeder Rechtsvorlage kann erst im Diskurs eingelöst werden. Diese Wahrheit, die rechtstheoretisch im modernen rechtswissenschaftlichen Diskurs prägnant in der Strukturierenden Rechtslehre (F. Müller)4) fundiert ist, erhält rechtsgeschichtlich ihre Bestätigung für die talmudische Rechtsordnung nicht lediglich durch die Tatsache, dass über die Rechtsvorlagen in umfassender Weise im Talmud diskutiert wurde; nicht die Tatsache des talmudischen Diskurses beweist dies, sondern die Art und Weise, wie darüber diskutiert wurde, womit ich unter „Art und Weise“ die topische Strukturiertheit des juristischen Diskurses im Talmud meine. Doch damit ist ein Problemzusammenhang angedeutet, auf den hier weiter nicht eingegangen wird. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf den Fall von Präjudizien. Es gilt, das Wesentliche diesbezüglich zusammenzustellen. 3

Die zweistufige Strukturiertheit in der Rezeption des Präjudizes

Die diskursive Rezeption des Präjudizes ist als zweistufig strukturiert aufzufassen. Zunächst muss das Präjudiz einem sogenannten Anerkennungsvorgang unterliegen, dann erst wird seine Relevanz auszuwerten sein und seine Gewichtung im Vergleich zu anderen Gesichtspunkten berücksichtigt. 4

Das Element der Entscheidungsrichtigkeit

Es muss erst geprüft werden, ob die getroffene Entscheidung die richtige gewesen ist. Die bloße Tatsache, dass in einem bestimmten Fall entschieden wurde, kann nach rabbinischem Recht nicht für die Geltung der Entscheidung verbürgen. Die dezisionistische Komponente im Entscheidungsvorgang bietet dabei keinen ausreichenden Anhaltspunkt. Wenn eine Entscheidung irrtümlich getroffen wird, ist sie nach rabbinischem Recht nicht rechtskräftig5). Gerichtliche Entscheidungen oder Entscheidungen eines Gelehrten, sind in grundsätzlicher Weise nicht endgültig. Sie sind von Menschen getroffen und deshalb niemals souverän. Sie schöpfen ihre Rechtskraft aus dem Entscheidungsvorgang, der immer einem Irrtum unterliegen kann. Der religiöse Rahmen, in dem die rabbinische Rechtsordnung eingebettet ist, ist hierbei wesentlich: Ein irrtümlich gefälltes Rechtsurteil ist ein verfehlter menschlicher Eingriff in eine von Gott geschaffene Rechtsordnung und fällt deswegen aus dem Rahmen dieser Rechtsordnung.6)5

Ansätze dezisionistischer Rechtsauffassung im Talmud und ihre relative Geltung

Das hohe Gewicht, das dem Gesichtspunkt der Entscheidungsrichtigkeit dabei zukommt, versteht sich nicht von selbst. Im Sinne einer dezisionistischen Rechtsauffassung kann man ja davon ausgehen, dass die Richtigkeit der Entscheidung mit der Entscheidung selbst zusammenfällt. Ansätze dezisionistischen Rechtsverständnisses gab es im rabbinischen Judentum. Der in bRosh haShana 16a überlieferte Disput Rabban Jochanan b. Zakkais mit den Ältesten von Bathyra/Patira ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Der Ort: Javne; die Zeit: die ersten Jahre der Nach-Tempelzeit (nach 70 n.Chr). In verschiedener Hinsicht wurde versucht, das neue rabbinische Zentrum in Javne nach der Zerstörung Jerusalems einzuweihen. Und eine Gelegenheit dazu bot sich, als das Neujahrsfest (Rosh haShana) einst auf einen Shabbat fiel. Es stellte sich nämlich die Frage, ob man den Shofar (Horn) blasen darf, wie man es im Tempel trotz des für den Shabbat geltenden Arbeitsverbots zu tun pflegte. Die Bathyras wollten darüber diskutieren. R. Jochanan b. Zakkai, der die Führung des neu gegründeten rabbinischen Zentrums in dieser Zeit eingenommen hatte, redete auf sie ein, die Diskussion auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen: man solle zunächst handeln, dann erst diskutieren. Der Shofar wurde geblasen. Darauf forderten die Bathyras R. Jochanan auf, sein Versprechen einzulösen und die getroffene Entscheidung einer Diskussion zu unterziehen. R. Jochanan b. Zakkai sprach aber ein Machtwort: „nach erfolgter Tat ist nichts einzuwenden“. 6
Die dezisionistische Rechtsauffassung, die im Verhalten von R. Jochanan zum Ausdruck kommt, hat sich aber weder allgemein noch in diesem Fall durchgesetzt. Sein Machtwort sollte dem Diskurs ein Ende setzen. Der Erfolg war aber nur vorläufig. Denn die Diskussion über das Thema ging trotzdem weiter. Davon zeugt schon das Entwicklungsstadium dieser Halacha in der Mishna, in der ein Disput darüber überliefert ist, ob die Entscheidung, die getroffen wurde, nur für Jabne gilt, oder für jede Stadt, in der sich ein großer Gerichtshof befindet.7)7
Das obwaltende Autoritätsprinzip im rabbinischen Judentum ist in solch radikaler Weise dynamisch strukturiert, dass es den Diskurs eigentlich nur fördert. Anfechtung von Entscheidungen, auch wenn sie von den größten Autoritäten getroffen wurden, sogar solche, die im Sinne einer Verordnung erlassen wurden, das heißt als legislative Innovationen des höchsten Gerichtshofs, ist nie ausgeschlossen. Zwar ist die Anfechtung einer Entscheidung des höchsten Gerichtshofs beschränkt, so der Satz in mEdujot 1,5: „Ein Gericht darf nicht die Entscheidungen eines anderen aufheben“, aber der Satz selbst wird in der Fortsetzung modifiziert, „es sei denn, dass es in Zahl und Weisheit überragt“, wobei das zweite Kriterium eine Dimension einbringt, die es einem späteren Gremium grundsätzlich ermöglicht, mit entsprechenden Einwänden die Entscheidung nach Ermessen zu revidieren oder ganz aufzuheben. 8

Entscheidungsrichtigkeit vs. Rechtssicherheit: Versuch eines Kompromisses

Ausgehend von diesem Rechtsverständnis, nach dem der Aspekt der materialen Entscheidungsrichtigkeit dominiert, wurden von den Rabbinen Konzeptionen erwogen, um dem konkurrierenden Gesichtspunkt der Rechtssicherheit Rechnung zu tragen. Ein vernünftiger Kompromiss zwischen den beiden miteinander konkurrierenden Gesichtpunkten ist im Namen des palästinischen Amoräers R. Assi (Ende des 3. Jh. n.Chr) überliefert.8) In bezug auf die Frage, ob ein Rechtsurteil seine Rechtskraft trotz eines Irrtums behalten kann, hat er eine partiell positive Antwort gegeben und somit zur Bekräftigung der Stellung der Rechtsentscheidung als solcher beigetragen. 9
Er unterscheidet zwischen dem Wort der Mishna (Devar Mishna) und der Erwägung (Schiqul haDa´at). Wurde eine Entscheidung in Unkenntnis eines Gesetzes (= des Wortes der Mishna) getroffen, so verliert die Entscheidung ihre Rechtskraft; angenommen wird dagegen ein irrtümlich gefälltes Urteil, wenn der Irrtum im eigenen Ermessen des Richters lag. 10
Eine Stärkung der Rechtskraft einer richterlichen Entscheidung auf diese Weise kann aber für die Frage nach deren Stellung als Präjudiz lediglich nur implizieren, dass der Richter, dem ein Präjudiz vorliegt, es einer Prüfung unterziehen muss, ehe die mögliche Rechtswirkung des Präjudizes weiterhin berücksichtigt wird. 11
Von Bedeutung ist es, auf die talmudische Rezeption dieses Ausspruchs hinzuweisen, denn sie beinhaltete einen erheblichen Bedeutungswandel der beiden Kategorien. Den Begriff „Wort der Mishna“ hat man mit jedem fortschreitenden Stadium, in dem sich das positive Recht befand, identifiziert. Ein Irrtum wegen „Erwägung“ wurde in einen Zusammenhang mit dem Gerichtsgebrauch gebracht. Auf die Frage, wann liegt ein Irrtum aufgrund von Erwägung vor, hat man geantwortet: Zum Beispiel dann, wenn der Richter in seinem Urteil die Orientierung an dem gewöhnlichen Gerichtsgebrauch außer acht gelassen hat.9) So wandelte sich ein „Irrtum wegen Erwägung“ in einen Irrtum wegen Nicht-Beachtung des richterlichen Gewohnheitsrechts. Nach dieser Interpretation, die in das 4. Jh. einzuordnen ist, ist der Richter verpflichtet, sich an beiden Instanzen zu orientieren, an dem Gesetz und an dem etablierten Gerichtsgebrauch, wobei das Gesetz den Vorrang vor dem Gerichtsgebrauch hat. 12
Der Richter soll sich an dem Gerichtsgebrauch orientieren, aber er ist in seiner Urteilsbegründung nicht daran gebunden. Was wiederum die Frage nach der Geltung des einzelnen Präjudizes angeht, so liegt die Konsequenz im Sinne eines Erst-Rechts-Schlusses auf der Hand. Wenn sogar dem Gerichtsgebrauch keine formale Bindungswirkung zukommt - eine davon abweichende Rechtsprechung bleibt rechtskräftig -, dann gilt dasselbe erst recht für das einzelne Präjudiz. 13

Der Spruch Ravas und das Paradigma von der zweistufigen Struktur in der Rezeption des Präjudizes

Dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit kann man in unterschiedlicher Weise Rechnung tragen. Entweder so wie R. Assi, indem man das dezisionistische Moment in beschränkter Weise gelten lässt, oder, indem auf der rechtskulturellen Ebene dafür gesorgt wird, dass ein gefälltes Rechtsurteil nicht leichtfertig widerrufen wird. Einige Berichte im Talmud über das Zerreißen von Rechtsurkunden mögen implizit auf einen solchen leichtfertigen Umgang mit der richterlichen Entscheidung hinweisen, zumal man bedenken sollte, dass die Begründung eines Rechtsurteils in der Regel in der Urkunde nicht festgelegt wurde. Vor diesem Hintergrund ist der Appell von Rava, einem der bedeutendsten amoräischen Gelehrten der vierten Generation an seine Schüler, R. Papa und R. Huna, Sohn R. Jehoshuas, zu verstehen. „Wenn eine Entscheidung von mir zu euch gelangt und ihr findet, dass sie zu widerlegen sei, so zerreißt sie nicht eher, als bis ihr zu mir gekommen seid; kann ich sie begründen, so sage ich es euch, wenn aber nicht, so trete ich zurück“.10)14
Eine direkte Auskunft über die Stellung des Präjudizes als solches gibt der zweite Teil des Ausspruchs. Rava konfrontiert seine Schüler mit einer paradoxen Anweisung, die er erst im zweiten Schritt erklärt. Die Anweisung lautet: „Wenn nach meinem Tod (eine Rechtsentscheidung von mir zu euch gelangt), so sollt ihr sie nicht zerreißen, aber auch (und hier das Paradox) nicht daraus lernen“. Beide Imperative stehen in einem Bezugsrahmen, d.h. sie betreffen denselben Entscheidungszusammenhang. Das Rechtsurteil von Rava liegt seinen Schülern als Präjudiz vor. Rava weist sie an, zunächst paradox, wie sie es handhaben sollen. Einerseits verpflichtet Rava sie zur Beachtung seines Rechtsurteils. Wie ist aber die Beachtungspflicht mit der Anweisung zu vereinbaren, aus der Entscheidung nicht zu schlussfolgern? 15
In der Fortsetzung wird die klärende Dimension mit eingebracht: „Ihr sollt das nicht zerreißen, denn es besteht die Möglichkeit, dass ich euch, wäre ich da, davon überzeugen könnte, und ihr sollt daraus nicht lernen, denn der Richter richtet sich danach, was seine Augen sehen.“ Der Richter muss das Rechtsurteil, das er zu fällen hat, selbst verantworten. Und dies hat zur Folge, dass er seine Vorlagen immer selbst, das heißt immer neu, auswerten soll. Das Verantwortungsprinzip geht hier Hand in Hand mit der Gebundenheit des Richters an die konkrete Situation, in der er seine Entscheidung treffen soll. Diese Verantwortung, die auf der Hochschätzung des situativen Faktors im Entscheidungsprozess beruht, ist mit einer strikten Befolgung von Vorentscheidungen nicht vereinbar. Da der Richter Augen hat, darf er Präjudizien nicht blind befolgen. Allerdings ergibt sich daraus nicht, dass er sie außer acht lassen darf. Er soll sie ja berücksichtigen, aber er darf sich nicht ausschließlich darauf verlassen.11)16
Die Bedeutsamkeit des Ausspruchs Ravas liegt in der systematischen Differenzierung von zwei diskursiven Etappen, die das Präjudiz durchlaufen muss, um zur Geltung kommen zu können. Auf die erste Phase der Prüfung des Präjudizes folgt die Phase seiner Auswertung. Dieses Paradigma gilt allerdings nicht allein für die Rechtsarbeit des Richters. Es trifft ebenso auf die Entfaltung der Rechtskraft des Präjudizes in dem juristisch-theoretischen Diskurs in der Akademie zu. Die Aufnahme eines Präjudizes in den Lehrbetrieb bedeutet eine Anerkennung, die aber noch längst keine Antwort auf die Frage nach dessen Auswertung gibt. 17

Der Ma’ase-Bericht in der Mishna

Ein Beispiel für die Rezeption von Präjudizien im Lehrhaus kann die Mishna selbst sein. Der Ma’ase-Bericht wird in der Mishna in der Regel in einen textuellen Zusammenhang so eingebaut, dass wir aus dem einzelnen Überlieferungszusammenhang nicht schließen können, welche Rechtswirkung die berichtete Entscheidung beinhaltet. Normalerweise folgt auf den Bericht keine weitere Diskussion. Es ist der dem Bericht vorausgehende allgemein formulierte Lehrsatz, der den Zusammenhang bestimmt. D.h.: Ein allgemeiner Satz, in der Mehrheit der Fälle, ein anonymer Rechtssatz und darauf der Ma’ase-Bericht. In der Forschung ist man sich darüber einig, dass diese Überlieferungsform des Ma’ase, bei der eine inhaltliche Entsprechung zwischen dem Lehrsatz und dem Ma’ase vorliegt, einen umgekehrten Vorgang in der Entstehung der Halacha widerspiegelt. Zuerst spielte sich der konkrete Fall (der Ma’ase) ab und daraus folgerte man die allgemeine Halacha. Indessen sind aber viele Präjudizien in der Mishna dokumentiert, die eben im Gegensatz zu der ihnen vorausgehenden Halacha stehen. Solche Präjudizien wurden aufgenommen, denn man hat sie für wichtig genug erachtet, aber nicht so, dass man aus ihnen gleich die allgemeine Rechtsnorm entnommen hätte. Die Frage, ob man die implizite Rechtsnorm, die im Präjudiz mitgetragen wird, abstrahieren kann und zur anonymen Halacha werden lassen soll, fällt also nicht zusammen mit der Frage, ob man dem Präjudiz Anerkennung und Zustimmung verleiht. Die Rechtswirkung von Präjudizien ist stets kontingent, ändert sich von Fall zu Fall. Konstant bleibt immer nur das Schema des zweistufig strukturierten Diskurses, auf das das Präjudiz angewiesen bleibt. 18

Auswertung des Präjudizes in einem gegebenen Fall: die Relevanz- und Gewichtungsfrage

In der zweiten Stufe des diskursiven Vorgangs, egal ob er im Gerichtshof oder in der Akademie stattfindet, sind - systematisch gesehen - zwei Fragen zu beantworten: es soll die Frage nach der Relevanz des Präjudizes für die anstehende Rechtsfrage diskutiert werden und ebenso die nach der Gewichtung des Präjudizes nebst anderen Gesichtspunkten, nach denen sich die Richter bzw. die Rechtsgelehrten orientieren. 19

Die Relevanzfrage: das induktive (analoge) Schlussverfahren

Die Relevanzfrage impliziert die Möglichkeit, aus dem konkreten Einzelfall zu verallgemeinern. Der Diskurs dreht sich hier um die Frage nach dem Induktionsschluss bzw. Analogieschluß. Auf dieser Ebene der juristisch-logischen Auslegung entfaltet sich die Rechtswirkung des Präjudizes oder sie wird gerade gebremst. 20
Prägendes Beispiel hierfür ist der Disput zwischen den Schammaiten und Hilleliten12) über die Frage, inwieweit das Einzelzeugnis einer Frau über den angeblichen Tod ihres Mannes vom Gericht angenommen werden kann.13) Das Problem wird vor allem in Krisenzeiten, in Kriegszeiten akut. Solange der Tod des Mannes nach den vorgesehenen Rechtskriterien nicht festgestellt worden ist, ist es der Frau untersagt, eine neue Ehe einzugehen.14) Die Halacha sieht im allgemeinen den Zweizeugenbeweis vor mit der zusätzlichen Restriktion, dass beide männlich sein sollten; aber in einem bestimmten Fall (Tod bei der Weizenernte) hat sich das Gericht auf das Einzelzeugnis der Frau verlassen. Das Präjudiz faßte Fuß im Lehrhaus, die Disputanten, Beit Schammai und Beit Hillel, waren sich jedoch nicht darüber einig, inwieweit man aus diesem Fall schlussfolgern sollte: „Beit Hillel sagt: wir haben dieses (dass nämlich die Aussage der Frau für glaubhaft gehalten wird) nur für den Fall gehört, dass sie von der Ernte kommt und zwar in demselben Lande und wie die Begebenheit (der Ma’ase) sich wirklich einmal zugetragen hat. Darauf sagte Beit Schammai zu ihnen: es ist gleich, ob sie von der Ernte oder vom Oliven-Sammeln oder von der Weinlese oder auch von einem anderen Lande kommt; die Weisen haben nur darum von der „Ernte“ gesprochen, weil sich der Fall in Wirklichkeit so zugetragen hat. Da entschied Beit Hillel wieder wie Beit-Schammai“.15)21
Der Induktionsschluss wird problematisch, wenn die Umstände des Falles komplex sind. Dann läuft man Gefahr, die Entscheidungsnorm im Rahmen der Auslegung des Präjudizes nicht in einen richtigen Zusammenhang mit den konkreten Umständen zu stellen. 22
Was gilt zum Beispiel, wenn ein Hüter seine Bewachungspflicht einem anderem Hüter übergibt?16) Macht er sich dadurch strafbar und muss Schadenersatz leisten, falls der Gegenstand, den er bewachen sollte, gestohlen wurde? In einem konkreten Fall hat Rav (3. Jh. n.Chr) den Hüter freigesprochen, aber dies aufgrund komplexer Umstände: Eine Gruppe von Gärtnern pflegte täglich ihre Schaufeln bei einer alten Frau zu verwahren. Eines Tages gaben sie die Schaufeln bei einem von ihnen in Verwahrung. Der Gärtner, der in die Funktion des Hüters getreten war, vernahm aber einen Hochzeitstrubel, übergab die Schaufeln jener alten Frau und ging dorthin. Während seiner Abwesenheit, wurden die Schaufeln gestohlen. Dem Rechtsspruch von Rav, der den Hüter von der Leistung des Schadensersatzes befreite, meinte man die allgemeine Rechtsnorm zu entnehmen, dass die Übertragung der Bewachungspflicht auf einen anderen Hüter keine Straftat darstellt. Die Schlußfolgerung war aber irrtümlich, was man erst später korrigierte. Bei Abstrahierung der allgemeinen Rechtsnorm wurde übersehen, dass Rav sein Urteil im Zusammenhang mit dem besonderen Umstand gefällt hatte, nämlich der Gepflogenheit der Gärtner, ihre Schaufeln bei der alten Dame zu deponieren. Es lag dabei nicht der einfache Fall vor, dass ein Hüter in eigener Verantwortung die Bewachungspflicht auf eine dritte Person übertrug. Der Hüter hat in der Verantwortungsübertragung im gegebenen Fall die gleiche Situation hergestellt, auf die sich die Gärtner immer verlassen hatten. Das ändert die rechtliche Situation und entsprechend hat dies Rav dazu veranlasst, den angeklagten Gärtner von der Klage zu befreien. 23
Das juristisch-logische Verfahren der Induktion ist ein diskursives Medium, durch das ein Präjudiz hindurchgehen muss, um seine potentielle Rechtskraft zu entfalten. Es gibt dabei keine sichere Methode, die für die Vermeidung von Irrtümern hätte verbürgt können. Vorsichtig und vor allem einsichtig soll in jeder Konfrontation mit einem Präjudiz das Verhältnis zwischen Besonderem und Allgemeinem herausgearbeitet werden. 24

Einschränkung der Anwendbarkeit des Analogieschlusses und ihre Aufhebung

Will man nun vermeiden, sich auf diesen unsicheren Weg zu begeben, oder meint man, dass die anderen sich nicht auf diesen Weg begeben sollten, dann lässt sich durch einen Grundsatz rechtsdogmatischer Autorität eingreifen und das Präjudiz für eine illegitime Orientierungsstrategie erklären, in dem man verbietet, aus ihm grundsätzlich abzuleiten. Ein Versuch dieser Art ist in der Tat dokumentiert. Die betreffende anonyme Baraita17) in bBaba Batra 130b verbietet die Ableitung aus einem Ma’ase und weist den Richter an, sich an die mehrheitliche Instanz der Gelehrten zu wenden, die allein für den fraglichen Fall zuständig seien.18) Das Ende des betreffenden Ausspruchs „nur, dass er sich nicht auf Analogien einlasse“ bekundet deutlich die Besorgnis, die in diesem Grundsatz zum Ausdruck kommt. Dieser Grundsatz hatte im Talmud jedoch keine Geltung erlangt. Der talmudische Kommentar, der sich unmittelbar auf diese Baraita anschließt, macht das abermals deutlich. Man wundert sich, dass so etwas gesagt wurde: Im ganzen Studium der Tora sind wir auf Analogien angewiesen, lautet der Einwand. Also wie denn? Und in typischer Weise wird der Ausweg durch eine restriktive Exegese gefunden: Man erklärt den Ausspruch als gültig nur für den Fall von Trefot, d.h. bei der Feststellung der Untauglichkeit des Tieres beim Schlachten. In diesem Bereich steht jeder Fall für sich - hier, aber nur hier, ist es sinnvoll, ein Analogieverbot auszusprechen. 25

Auswertung des Präjudizes: Die Gewichtungsfrage

Die Frage nach der möglichen Geltungskraft des Präjudizes beinhaltet - über die logisch-juristischen Problematik hinaus - auch einen weiteren Aspekt, die Gewichtungsfrage. Ein Präjudiz ist schließlich nicht der alleinige Gesichtspunkt, nach dem man sich in der Rechtsprechung und in der juristisch-akademischen Rechtsbildung orientiert. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, auf den Topos „Präjudiz hat den Vorrang“ hinzuweisen. Dieser Topos wird zwar nicht allzuoft im babylonischen Talmud angeführt, aber an den fünf Stellen, an denen er vorkommt,19) scheint - bis auf eine Stelle20) - ein Konsens über seine Geltung zu bestehen. Es handelt sich dabei um einen Orientierungsmaßstab, der den Verlauf des Diskurses in den babylonischen Akademien (wohlgemerkt: in der Akademie, nicht im Gerichtshof) mitbestimmt hatte. Dieser Topos kommt unter anderem auch zur Anwendung, wenn das Präjudiz mit einem allgemeinen Lehrsatz konkurriert. Der Vorrang, den das Präjudiz gegenüber der Halacha hat, ist in der Anerkennung des höheren Stellenwerts der Praxis gegenüber der Theorie begründet. Die Rabbinen waren sich dessen bewußt, dass die Lehrmeinung bei aller Wertung, die ihr zukommt, innerhalb der Grenzen des theoretischen Meinens bleibt. Im Rahmen des juristisch-akademischen Diskurses kommt man ja zu Ergebnissen, denen manchmal diskursive Zwänge zugrundeliegen. Der Diskurs kann sich so verselbständigen, dass man den Realitätsbezug aus den Augen verliert. Tritt ein solches halachisch-theoretisches Ergebnis mit einem Präjudiz in Konkurrenz, so leuchtet es ein, dass man sich an dem Präjudiz und nicht an der abstrakten Lehrmeinung orientiert, zumal in den Fällen, in denen sich das Präjudiz etabliert hat, wenn es also entweder zum Bestandteil des positiven Rechts geworden ist (d.h. es kommt beispielsweise in der Mishna vor), oder wenn die Autorität, die hinter ihm steht, von hohem Rang ist. 26
Allerdings bedeutet der Topos vom Vorrang des Präjudizes vor der Halacha nicht, dass man sich im Konkurrenzfall immer nach dem Präjudiz zu richten hat. Die Relevanzfrage des Präjudizes kann hier die Gegenkraft darstellen. Man kann dem Präjudiz den Vorrang verleihen und ihn gleich darauf entmachten, indem man seine Irrelevanz für den Problemzusammenhang bloßstellt. 27

Schlußwort

Aus den bisherigen Ausführungen geht deutlich hervor, dass ein Präjudiz im talmudischen Rechtssystem keine unmittelbare Bindungswirkung entfalten kann. Aus dieser Erkenntnis und dem letztgenannten Hinweis auf den Topos vom Vorrang des Präjudizes läßt sich im Sinne des Erst-Recht-Schlusses auf die gesamte Menge von Lehrmeinungen schließen, denen auch unmittelbare Geltung nicht zukommt. Somit eine weitere Teilbegründung für die anfangs aufgestellte allgemeine Behauptung, dass die Rede von unmittelbarer Geltung oder formaler Bindungswirkung auf keine Rechtsquelle des rabbinischen Rechtssystem zutrifft. 28


Fußnoten:

1 Überarbeitete Fassung des Vortrags im Rahmen des Kolloqiums „Präjudizien in der strukturierenden Rechtslehre und im Talmud“ (Disputanten: Prof. Dr. jur. Fedja Müller und Dr. Ronen Reichman) an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg am 18.1.2000.

2 Ma´ase = Fall, Tatfall.

3 Zum Begriff „Präjudiz“ vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (6. Aufl. Berlin u.a. 1991) S. 429ff.

4 Vgl. u.a. Strukturierende Rechtslehre (2. Aufl. Berlin 1994). Das Verdienst dieses rechtstheoretischen Ansatzes besteht darin, die Erkenntnis erbracht zu haben, dass zwischen Normtext und Textnorm scharf zu unterscheiden ist und dass Normativität grundsätzlich als prozessualer Begriff aufzufassen gilt.

5 Dies wird beim Vergleich zwischen Kapital-Verbrechen und vermögensrechtlichen Delikten in der Mishna (Sanhedrin 4,1) als selbstverständlich vorausgesetzt: „...Bei Vermögens-Rechtssachen findet (nachdem bereits das Urteil gefällt ist) eine Wiederaufnahme des Verfahrens sowohl zu Gunsten als auch zum Nachteil statt (falls es sich herausstellt, dass das Gericht sich geirrt hat), bei Todes-Strafsachen darf man das Verfahren nur zur Freisprechung, aber nicht zur Verurteilung wiederaufnehmen“. Vgl. ferner mSanhedrin 3,8: „So oft Jemand einen Beweis bringt, hebt man das Urteil auf“.

6 Vgl. z.B. folgende Sprüche aus bSanhedrin 7a-b: „Ein Richter, der ein gerechtes Urteil der Wahrheit wegen fällt, veranlasst, dass die Göttlichkeit (Schechina) unter Israel weile ... Wenn ein Richter gegen das Recht von einem nimmt und dem anderem gibt, so nimmt der Heilige, gespriesen sei er, seine Seele von ihm ... Der Richter stelle sich stets vor, als liege ihm ein Schwert zwischen seinen Hüften und sei die Hölle unter ihm offen“.

7 Vgl. mRosh haShana 4,1. In der Mishna kommt die dezisionistische Auffassung im Traktat Bekhorot 4,4 zum Ausdruck: „Hat er bei Entscheidung einer Rechtssache den Schuldigen freigesprochen und den, der Recht hatte, verurteilt, das Reine für unrein oder das Unreine für rein erklärt, so ist das Geschehene nicht mehr ungeschehen zu machen“. Der Bezugsrahmen ist die Schiedsgerichtsbarkeit und in diesem Sinne die Fortsetzung zu verstehen: „doch muss er von dem Seinen bezahlen“. Der Schiedsrichter unterliegt der Regresspflicht. Befreit davon ist der, der „ein Fachkundiger für den (oder „von dem“) Gerichtshof ist“. Unter welchen Voraussetzungen ein Richter zum „Fachkundigen“ (Mumche) wird, ist in der Forschung umstritten. Es kann sein, dass die soziale Zugehörigkeit zur rabbinischen Elite ausreicht. Aber auch die amtliche Ernennung des Richters von dem Patriarchen (Nasi) ist ein mögliches Kriterium.

8 Vgl. bSanhedrin 33a.

9 Ebd.

10 Vgl. bBaba Batra 130b.

11 Interessant ist die Parallelität, die zwischen der Wendung Ravas („Der Richter richte sich nur danach, was seine Augen sehen“) und der Metapher vom „Hin- und Herwandern des Blickes“ besteht, die von K. Engisch 1943 geprägt wurde und sich in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft als Wendung etabliert hat, um an die Stelle des Subsumtionsmodells des Rechtspositivismus für die Entscheidungsfindung zu treten.

12 Mit Schammaiten und Hilleliten sind die zwei vor-rabbinischen Schulen gemeint, die zur Zeit der Tempels im 1. Jh. n.Chr. wirkten.

13 Vgl. mJebamot 15,2 und die Diskussion darüber in bJebamot 116b.

14 Die in diesem Status befindliche Frau wird „Aguna“ genannt.

15 mJebamot 15,2.

16 Zu diesem Beispiel vgl. bBaba Mezia 36a.

17 Beraita = eine Tradition zur Zeit der Mishna, die jedoch bei der Redaktion der Mishna nicht aufgenommen wurde.

18 „Man folgere „Halacha“ weder aus dem „Talmud“ (= der Lehre in der Akademie) noch aus einem „Ma´ase“, sondern (sei darauf angewiesen), dass man ihm die „Halacha“ für den (fraglichen) Tatfall unterrichtet. Hat er gefragt, und man hat ihm die „Halacha“ für den (fraglichen) Fall unterrichtet, so gehe er und richte sich danach; nur dass er sich nicht auf Analogien einlasse“.

19 Vgl. bShabbat 21b; ebd. 126b; bNidda 65b; bBaba Batra 83a; ebd. 130b.

20 bBaba Batra 130b.

Aufsatz vom 8. November 2000
© 2000 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
8. November 2000

DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2019-006