Zeitschrift Debatten Richterkulturen

Nahed Samour

„Gericht oder nicht?“ Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung. Vormoderne Alternativen – Alternativen in der Moderne „Gericht oder nicht?“ Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung. Vormoderne Alternativen – Alternativen in der Moderne Interdisziplinärer Workshop zur Konfliktforschung (Tagungsbericht)

1Programmübersicht:

  1. Thomas Duve, Frankfurt am Main: Begrüßung / Einführung
  2. Karsten-Michael Ortloff, Berlin: Gerichtsmediation in Deutschland – Symbiose gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktlösung
  3. Luise Schorn-Schütte, Frankfurt am Main: Stadtunruhen im 16./17. Jahrhundert: Anlässe, Rechtfertigungsmuster, Schlichtungsverfahren, Teilnehmer
  4. Nina Dethloff, Bonn: Konsensuale und alternative Konfliktlösungen für transnationale Partnerschaften
  5. Albrecht Cordes, Frankfurt am Main: Mittelalterliche Handelsgerichte und die Interessen der Kaufleute
  6. Rossitsa Gradeva, Blagoevgrad (Bulgarien): Orthodox Christians’ Court Strategies in the Ottoman Balkans (17th–18th centuries)
  7. Roland Fritz, Frankfurt am Main: Gerichtsinterne Mediation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit
  8. Moritz Bälz, Frankfurt am Main: Reformieren was andere als Modell preisen? – Zum Verhältnis gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung in Japan
  9. Martin Fleckenstein, Berlin: Strategien zur Vermeidung von Verwaltungsprozessen und außergerichtliche Konfliktlösungsmodelle im öffentlichen Baurecht
  10. Miloš Vec, Frankfurt am Main: Normativierung zwischenstaatlicher Konfliktlösung? Fragen der Völkerrechtsgeschichte an die Internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts
  11. Joachim Rückert, Frankfurt am Main. Moderation Podiumsdiskussion: „Erkenntnisinteressen aus der Praxis“. Diskussion zur Einführung in die weitere Projektarbeit: „Grundlagen und Perspektiven außergerichtlicher und gerichtlicher Konfliktlösung“

2Ein erster Workshop im Rahmen des Forschungsverbundes „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte und des Instituts für Rechtsgeschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main fand vom 13.–14. September 2010 am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main statt.

3Zu diesem Workshop hatte die Frankfurter Rechtsgeschichte zum inter- und transdisziplinären Dialog über Konfliktforschung eingeladen. Folgende Fragen aus der Perspektive des Individuums, das Hilfe bei der Konfliktlösung sucht, wurden gestellt: Unter welchen Bedingungen wählte und wählt man den Weg zum Gericht, und wann zog und zieht man es vor, außergerichtliche Wege zur Konfliktlösung zu suchen? Welche Vor- und Nachteile hatte und hat der Gerichtsprozess unter den Aspekten der Prozessdauer und -kosten, der Nachhaltigkeit des Resultats und der Dauerhaftigkeit des Friedens? Aus dem vergleichenden Ansatz ergab sich die leitende Erkenntnisfrage, wie auf den vor-, außer- und überstaatlichen Ebenen erprobte und neue Strategien zur Konfliktlösung verfolgt wurden und werden. Wie verhandelten Individuen „nichtstaatliches Recht“ in der rechtspluralen Vormoderne und wie in der Moderne, im Lichte der gleichzeitigen Globalisierung, Transnationalität und Fragmentierung des Rechts? Die Gegenwartserfahrung der Zurückdrängung des staatlichen Gerichtsmonopols durch außergerichtliche, alternative Streitbeilegung sowie die geltendrechtliche und historische Multinormativität erlaubt der rechtshistorischen Forschung, die strukturellen Ähnlichkeiten vormoderner und postmoderner Rechtswelten aufzuweisen. Diese Forschungsannahmen galt es in einem ersten Workshop zu überprüfen.

4Eine besondere Akzentuierung legte der Workshop auf eine intensive Vernetzung von Wissenschaft, Rechtspraxis und Wirtschaft. Das große Echo der eingeladenen Referierenden und Gäste spiegelte diesen Wunsch nach Vernetzung in Fragen der Konfliktlösung deutlich wider. Vertreten waren das Bundesministerium der Justiz, die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung Wetzlar, die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Berlin und Frankfurt am Main, die Fachhochschule Frankfurt am Main, das Interdisziplinäre Zentrum für Ostasienstudien (IZO) der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Streitschlichtungsstelle derDeutschen Bahn AG, die Handwerkskammer Rhein-Main, Mediations- und Anwaltskanzleien, Mediationsinstitute, die Bundesrechtsanwaltskammer und die International Max Planck Research School for Comparative Legal History. Mit dieser heterogenen Teilnehmerschaft war eine grundlegende Voraussetzung für den Erkenntnistransfer aus der Wissenschaft in die Praxis und zurück, Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Europa und Asien, universitärer und außeruniversitärer Forschung gewährleistet und machte die Veranstaltung damit außergewöhnlich vielfältig und vielstimmig. Der daraus resultierende Erkenntnisgewinn wurde vielfach begrüßt.

5Thomas DUVE (Frankfurt am Main), Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtgeschichte, begrüßte als Gastgeber die Teilnehmenden und legte das Warum des Workshops dar. Dieser solle eine gemeinsame Reflexion über Entscheidungsmechanismen und ihre Institutionen auch jenseits des Normalfalls ermöglichen. Ziel sei es, Entstehungsbedingungen und Heranbildung des staatlichen Entscheidungssystems kritisch zu beleuchten und dabei Fragen nach der Bestimmtheit des Richteramts, des Gerichts und ihrer gesellschaftlichen Aufgaben nachzugehen. So illustrierte Duve die kirchenrechtliche Sicht auf den Priester als Seelenrichter (iudex animarum), dessen Aufgabe es gewesen sei, auch im forum internum zu richten und, ähnlich einem Richter, eine weit über geistliche Angelegenheiten hinausreichende Bedeutung zu beanspruchen.

6Heute werde die Frage nach der justiziellen Aufgabenverteilung eher als Verortung der Entscheidungssysteme im Rahmen der Zukunft von Governance gestellt. Eine Neu-Diskussion des Idealbildes staatlicher Gerichtsentscheidung werde gefordert, vor allem dort, wo transnationale Entscheidungen erforderlich seien. Vor dem Hintergrund, dass Streitschlichtung sowohl in der Vormoderne als auch in der Moderne nicht oder nur zum Teil des Staates bedürften, sah DUVE die Herausforderung in der Frage, wie weit dabei vormoderne und moderne Streitschlichtungen auseinander stehen und welche strukturellen Antworten die Vormoderne der Moderne anbieten könne.

7Im Folgenden wechselten sich rechtshistorische und geltendrechtliche Beiträge ab und förderten die Konzentration auf strukturelle Fragen der Konfliktlösung.

8Dem geltenden Verwaltungsrecht attestierte Karsten-Michael ORTLOFF (Berlin) eine Verbesserung von Streitkultur und Rechtsschutz durch eine vermehrte gerichtliche und außergerichtliche Mediation. Als Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Berlin und Gerichtsmediator im Ruhestand sowie nunmehr freier Mediator schilderte er in seinem Beitrag zu „Gerichtsmediation in Deutschland – Symbiose gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktlösung“ die Vorteile der Mediation für die beteiligten Parteien und die Justiz, ohne dass diese dabei den Rechtsstaat und dessen Standards unterwandere.

9Der wesentliche Unterschied zwischen der Mediation und dem gerichtlichen Streitentscheidungsverfahren sei vor allem, dass die Parteien selbst eine freiwillige, autonome und zukunftsorientierte Lösung ihres Konfliktes erarbeiteten. Die Mediation verfüge also über keine Entscheidungskompetenz und unterbreite keine Lösungsvorschläge (anders als bei der Streitschlichtung). Mit den Erkenntnissen der (Sozial-)Psychologie behandele man Konflikte statt normorientiert vielmehr interessenorientiert und damit nachhaltig. Damit schaffe man Rechtsschutz für alle beteiligten Parteien.

10Bislang seien die drei Formen der Mediation weitgehend gesetzlich ungeregelt: (1) Die unabhängig von einem Gerichtsverfahren durchgeführte Mediation (außergerichtliche Mediation), (2) die während eines Gerichtsverfahrens außerhalb des Gerichts durchgeführte Mediation (gerichtsnahe Mediation) und (3) die innerhalb eines Gerichts von einem nicht entscheidungsbefugten Richter durchgeführte Mediation (richterliche Mediation). Die Frage, ob die Richterschaft einen Streit ohne Gesetzesgrundlage im Wege der Mediation beilegen dürfe, sei zwar vielfach erörtert worden. ORTLOFF sieht jedoch keinen Bedarf für eine gesetzliche Normierung, da Verhandeln und Vermitteln nicht nach rechtlichen, sondern nach (sozial)psychologischen Kriterien erfolgten, die sich dem gesetzlichen Zugriff entzögen. Zudem habe der Gesetzgeber die Richterschaft ohnehin mit einer Doppelrolle ausgestattet: Mit der Kompetenz zur gerichtlichen Streitentscheidung nach Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz und der gütlichen Beilegung nach § 278 Abs. 2 ZPO. Mediation und Rechtstaatlichkeit stünden sich daher keineswegs entgegen. Hierfür solle ein – in der Tagung noch einige Male hervorgehobenes – Zitat des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden: „Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“ (BVerfG, NJW-RR 2007, 1073).

11Seit August 2010 liege nun ein Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vor, dessen Ziel es sei, die Mediation gesetzlich zu fördern. Für die richterliche Mediation werde damit eine ausdrückliche rechtliche Grundlage geschaffen. Die Europäische Mediationsrichtlinie von 2008 werde erwartungsgemäß bis Mai 2011 in nationales Recht umgesetzt werden. ORTLOFF begrüßte, dass, was zuvor im Rahmen der Justizverwaltung organisiert wurde, nun richterliche Aufgabe werde. Den Mehrwert sieht ORTLOFF in einer Symbiose der unterschiedlichen Konfliktlösungsmechanismen vor Gericht. So profitiere die „klassische“ Streitbehandlung durch die zuständige Richterschaft durch die gestärkte Kommunikation und Verhandlungsführung als Auswirkungen der Mediation(sausbildung).

12In der Diskussion wurde auf drei Problemkreise in Anlehnung an die Vormoderne verwiesen: (1) Auch in der Vormoderne schafften und änderten die Parteien selbst Recht jenseits der Obrigkeiten und lebten einen Rechtspluralismus. Ob diese Veränderungen des Rechts jedoch immer von Vorteil für die Gesellschaft waren, wäre zu überprüfen. (2) Die Dauerhaftigkeit der außergerichtlichen Konfliktlösung wurde in Frage gestellt. Für die westeuropäische Vormoderne war sie jedenfalls nicht gegeben. (3) Zu beleuchten sei auch die Frage nach einer Konfliktverschärfung, da weder Zwang noch Druck hinter der außergerichtlichen Entscheidung stünden. Hier betonte ORTLOFF, dass die Mediation den Rechtsstaat nicht abschaffe, sondern vielmehr außergerichtlich für das sorge, was auch schon vorgerichtlich hätte passieren können.

13Luise SCHORN-SCHÜTTE (Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main) knüpfte in ihrem Beitrag zu „Stadtunruhen im 16./17. Jahrhundert: Anlässe, Rechtfertigungsmuster, Schlichtungsverfahren, Teilnehmer“ an die Legitimationsmuster außergerichtlicher Streitbeilegungen an. Für die frühe Neuzeit sei weniger die zukunftsorientierte Lösung als vielmehr die religiös fundierte Kraft der Vergangenheit als Zugangsweise zur Streitbeilegung maßgeblich. SCHORN-SCHÜTTE stellte die in der Geschichtswissenschaft gängige These von Winfried SCHULZE in Frage, dass soziale Konflikte zwischen Untertanen und Stadtherren durch gerichtliche Instanzen kanalisiert worden seien („Verrechtlichung“). Vielmehr müsse man die autonome Konsensbildung (Bernd MOELLER) mit der traditionellen, auch gewalttätigen, Konfliktlösung (Tom BRADY) jenseits der Gerichte ernstnehmen und der Forschung neue Wege ebnen. Wegweisend seien traditionale nicht-verrechtlichte und dabei nicht gewaltaustragende Konfliktsituationen. Diese ereigneten sich vor allem in Umbruchssituation wie der Reformation zwischen Stadtherren und Stadtgemeinden. Als vier traditional begründete Grundnormen der Streitschlichtung nannte SCHORN-SCHÜTTE Gemeinnutz, städtischen Frieden, Prinzip des wirtschaftlichen Auskommens und städtische Freiheit. Exemplarisch für die Konfliktlösung zwischen Rat und Gemeindemitgliedern diente ihr Schwäbisch Hall mit den sog. Schneckischen Unruhen von 1598–1603. Hier wurde in gut dokumentierten Einzelschritten unter Einbeziehung von Suppliken evangelischer Theologen ein ad hoc-Bürgerausschuss als autonomes Streitschlichtungsinstrument mit eigener Normsetzung ins Leben gerufen, der sich durch theologische Traditionen und städtische Solidarität legitimierte. SCHORN-SCHÜTTE gestand zu, dass diese Thesen sehr umstritten seien und legte drei Arbeitshypothesen zur Diskussion vor: (1) Stadtkonflikte seien auf der Gemeindeebene gelöst worden, damit wäre der Antagonismus zwischen MOELLER und BRADY hinfällig. (2) Die Ideologie, hier die lutherische Theologie, bestimmte die Orientierung der Konfliktlösung und ermöglichte Legitimation durch Tradition. (3) Da es institutionalisierte Streitschlichtungsinstitutionen für den innerstädtischen Konflikt nicht gab, wirkten die selbst gesetzten konsensualen Verfahrensschritte identitätsstiftend.

14In der Diskussion erhielt SCHORN-SCHÜTTE Zuspruch: Notwendig sei ein erweitertes Modell bzw. ein dritter Weg, eine „Infra-Justice“, wie aus der Pariser Forschung bekannt. Eine Typologie nach Verrechtlichung, Konsens und Gewalt als Schlichtungsmechanismen sei zu begrüßen. Die Konsensfindung der Gemeinde sei für verfassungsrechtliche Fragen damit belegt, bei zivilrechtlichen Fragen sei dies jedoch nicht der Fall. Mit Blick auf die Mitwirkung der Theologen an der Streitschlichtung wurde die Notwendigkeit betont, dass es Menschen mit (sozialer, gelehrter, theologischer, juristischer) Reputation seien, die Mediation zustande brächten. Auffallend sei dabei die auf Amtsträgerschaft beruhende Reputation, ohne jedoch im streitschlichtenden Fall als Amtstäger zu fungieren, vielmehr als Autoritätsperson und dabei ähnlich dem heutigen Gerichtsmediator.

15Nina DETHLOFF (Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn) stellte in ihrem Beitrag „Konsensuale und alternative Formen der Konfliktlösung für transnationale Partnerschaften“ Problematik und konsensuale Lösungen der zunehmenden grenzüberschreitenden Eheschließungen und -scheidungen vor. Die Zunahme der Mobilität von Ehepartnern und ihren Kindern brächte u. a. eine Vielzahl von Gerichtsständen und eine mit Unsicherheiten und Kosten verbundene Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts mit sich. Um das Vertrauen in den Bestand des Statusverhältnisses Ehe zu schützen und die Mobilität innerhalb Europas zu gewährleisten, schlug DETHLOFF das optionale Modell der europäischen Ehe vor, wonach Voraussetzung und rechtliche Konsequenzen des Ehe-, Scheidungs- und Scheidungsfolgenrechts vereinheitlicht würden. Dabei sollen Mediationsresultate gesichert und grenzüberschreitend vollstreckbar gemacht werden, gleichzeitig auch der staatliche Rechtsschutz vor Gericht gewahrt bleiben. DETHLOFF verwies auf die Grenzen der Mediation, die in der fehlenden Dispositionsbefugnis bezüglich des Statusverhältnisses der Ehe begründet seien (Ehe ist keine Privatentscheidung). Auch finde Mediation ihre Grenzen im Schutz von Kindern, häuslicher Gewalt (in einigen Rechtsordnungen) und in der Position des wirtschaftlich schwächeren Ehegattens. Damit wies sie auf die Gefahr der Mediation hin, dass keine eigene, freiwillige Lösung gefunden werden könne, wenn eine Partei in der schwächeren Position sei. Aus feministischer Sicht werde Mediation gerade für Frauen als nachteilig erachtet, da diese in vielen tatsächlichen Fällen wirtschaftlich schlechter gestellt seien und weniger kompetitiv ihre Interessen verträten. Über die Auswirkungen von Mediation bei Machtgefällen bedürfe es jedoch noch weiterer Rechtstatsachenforschung.

16In der Diskussion wurde die kühle Distanz der Vortragenden zur Frage der Freiwilligkeit der Streitschlichtungsbeteiligten begrüßt. In der Praxis stelle sich die Freiwilligkeit häufig als fiktives Konstrukt dar, vielmehr erfolge eine nüchterne Abwägung der Verfahrensalternativen. Dass die Schiedsverfahren in Familiensachen in den USA, Australien und Kanada größere Aufmerksamkeit erführen als in Deutschland, liege vor allem an den großen territorialen Entfernungen, die für erhebliche Probleme sorgten. So seien die sog. Relocation-Fälle, in denen es darum gehe, ob der (Ex-)Ehegatte mit dem Kind woanders hinziehen dürfe, ein großes Einsatzgebiet für Mediation. Die Besonderheit des Familienrechts zeige zwei gegenläufige Entwicklungen; eine starke Verrechtlichung einerseits stünde einer Entrechtlichung bzw. Deregulierung in der Sphäre der Ehe entgegen. Diese erlaube eine größere privatautonome Regelungsfreiheit hinsichtlich der Ausgestaltung von Ehe, Scheidung und Scheidungsfolgen. Historisch sei eine Verschiebung vom Verbot der Scheidung bis hin zur klaren rechtlichen Regelung der Scheidungsfolgen (wie in der Verschuldensfrage) und zur heutigen konsensualen Beilegung sogar in Sorgerechtsfragen zu konstatieren. Der weltweit sichtbare Trend der Ausgestaltung durch Mediation sei mit zeitlichen Verzögerungen auch in Deutschland absehbar.

17Albrecht CORDES (Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main) untersuchte „Mittelalterliche Handelsgerichte und die Interessen der Kaufleute – ermittelt am Beispiel der hansischen Privilegien“. Besonderes Augenmerk wurde auf die Einflussnahme mittelalterlicher Kaufleute auf die für sie günstige Ausgestaltung der ordentlichen und außerordentlichen Verfahren gerichtet. Die große Auswahl an außerordentlichen Streitschlichtungsinstrumenten des Mittelalters unterschied CORDES in Sondergerichte innerhalb des staatlichen bzw. königlichen oder sonst herrschaftlichen Gerichtssystems und in die vielfältigen Formen von Konfliktlösung außerhalb dieser Institution. Hierzu gehören Formen von der Schiedsgerichtsbarkeit über alle Arten von Schlichtung und Mediation bis hin zu Strategien gütlicher Streitbeilegung durch einen Vermittler oder schlicht inter partes, inklusive Drohung, Gewalt oder Untätigsein.

18Aus der dynamischen und subjektiven Perspektive der Kaufleute als Justiznutzer fokussierte der Vortragende auf die Frage, ob ordentliche oder Sondergerichtsbarkeit, wie spezielle Markt-, Messe- und sonstige Handelsgerichte, als Instanz der Streitschlichtung in Anspruch genommen wurden. CORDES’ These lautete: Je attraktiver die „ordentliche“ Justiz für Kaufleute gewesen sei, desto geringer ihre Neigung zur außerordentlichen Gerichtsbarkeit und außergerichtlichen Konfliktlösung.

19CORDES schilderte wie, entsprechend der jeweiligen Situation ihrer Ansässigkeit in der Stadt oder in der Fremde, Kaufleute für die gerichtliche Auseinandersetzung Vorsorge getragen und eine günstige Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens gesteuert hätten. Sie seien bestrebt gewesen, die prozessualen Regeln aktiv auf ihre Bedürfnisse auszurichten und hätten für möglichst sachkundige Richter, rationale Beweisregeln und rasche Entscheidungen gesorgt. Vor diesem Hintergrund rekonstruierte CORDES die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse der Kaufleute in Bezug auf die einzelnen Verfahrensschritte zur Schlichtung von Auseinandersetzungen, die zu den kaufmännischen Privilegien führten. Statt der sonst meist bei der Untersuchung der Privilegien eingenommenen verfassungsrechtlichen Vogelperspektive, aus der heraus Privilegien vor allem als Instrument zur Organisation von Herrschaft untersucht würden, ging es CORDES um die Nutzerperspektive, also den Blickwinkel derjenigen, die durch die Privilegien begünstigt worden seien und im Zweifel auch teuer für sie bezahlt hätten. Skepsis sei angebracht gegenüber der postulierten angeblichen Lex Mercatoria im Sinne einer einheitlichen Rechtsordnung auf prozess- und materialrechtlichem Gebiet. CORDES rekonstruierte statt dessen die Erwartungen an die einzelnen Schritte des Handelsprozesses, von Gerichtsort und -zeit, Zuständigkeiten, Gerichtsbesetzung, vorläufigem Rechtsschutz, dem besonders wichtigen Beweisrecht, Dauer und Kosten der Entscheidung bis hin zur Vollstreckbarkeit.

20Die beiden Idealtypen einer den Kaufleuten geeignet erscheinenden ordentlichen Gerichtsbarkeit und eine ausgeprägte Spezialgerichtsbarkeit für Messen und Märkte würden am besten von Lübeck und seiner von den Kaufleuten selbst bestimmten ordentlichen Ratsgerichtsbarkeit auf der einen und England mit seiner komplizierten, verzweigten Gerichtsverfassung auf der anderen Seite repräsentiert. Eine Vorliebe für eines der beiden Systeme ergebe sich aus den Privilegienwünschen der hansischen Kaufleute nicht. Sie schickten vielmehr ihre diplomatischen Delegationen zur Aushandlung der Privilegien mit einem ziemlich konstanten, im Lauf der Zeit immer weiter verfeinerten Bündel von konkreten Wünschen auf die Reise. Ihre konkreten Wünsche ließen sich, solange die Verhandlungsposition der Hanse stark genug gewesen sei, in jedem System weitgehend realisieren.

21Diskutiert wurde anschließend über die Frage nach der Nachhaltigkeit der Entscheidung: Führt das Endurteil wirklich zum Ende des Konflikts oder ist das Verfahren nur eine Episode? Gibt es für die Dauerhaftigkeit der Entscheidung Kriterien? Sind diese abhängig von der Handelsware oder -route und wie unterschieden sie sich beispielsweise von der Dauerhaftigkeit verfassungsrechtlicher Fragen? Eine intensive Diskussion, angeführt von den Historikern, gab es bei der Nutzung der Begrifflichkeiten von „öffentlich“ und „privat“, die es bis zur frühen europäischen Neuzeit nicht gegeben habe. Auch Begriffe wie „Sondergericht“ oder „außerordentliches Gericht“ seien für die Ständegesellschaft nicht hilfreich oder mit „Fachgericht“ besser zu bezeichnen. Hervorgehoben wurde, dass dieses Beispiel zeige, dass die Frage nicht lauten könne „Gericht oder nicht?“. Stattdessen habe bis zum 19. Jahrhundert eine große Auswahl von Gerichten vorgelegen.

22Rossitsa GRADEVA (American University, Blagoevgrad, Bulgarien) schilderte aus der Fülle osmanischer Gerichtsurteile unter dem Titel „Orthodox Christians’ court strategies in the Ottoman Balkans (17th–18th centuries)“, welche gerichtliche Vorgehensweisen christliche Osmanen auf dem Balkan verfolgten, um statt vor orthodox-christlichen oder katholischen vor islamischen Gerichten ihre Interessen zu verfolgen.

23Von besonderem Interesse sei, so GRADEVA, wie groß die islamischen Rechtskenntnisse der christlichen Balkan-Osmanen und wie hoch ihre Bereitschaft gewesen sei, dieses Wissen strategisch vor Gericht einzusetzen, auch gegen eigene Familienmitglieder und gegen Muslime. Die Gründe für die Streitschlichtung vor islamischen Gerichten, insbesondere in Fragen des Familien- oder Vermögensrechts, seien vielfältig gewesen: Vor einem staatlich sanktionierten islamischen Gericht sei die Vorhersehbarkeit des Rechts und seiner Vollstreckung transparenter gewesen, vor allem bei beschränkter juristischer Kompetenz des christlichen Patriarchen. Zudem habe in ehe- und scheidungsrechtlichen Fragen das islamische Recht als flexibler gegolten und die von Ehefrauen initiierte Scheidung bei fehlendem oder ungenügendem Unterhalt oder Gewalt als Scheidungsgrund ermöglicht, auch ohne aufwendige Beweisfragen. Für das Scheidungsersuchen vor islamischen Gerichten sei erleichternd gewesen, dass die Ehe nach islamischen Recht grundsätzlich vertraglich geschlossen und damit auch wieder beendet werden konnte. Erbrechtliche Fälle seien auch deswegen vor islamischen Gerichten ausgefochten worden, weil diese beispielsweise räumlich näher waren als ekklesiale. Laut GRADEVA weitete sich das Wissen über „die Anderen“ auch auf das Wissen über das „andere Rechtsystem“ aus und wies eine Relevanz zum eigenen Leben auf. Islamische Gerichte, von GRADEVA auch Qadi-Gerichte genannt, seien von jeher für christliche und jüdische Religionsangehörige als Monotheisten zugänglich gewesen.

24In der Diskussion wurde der Forschungsbedarf über polylinguale Gerichtssitzungen und -akten angesprochen. Zwar kannten im osmanischen Reich die Balkan-Christen die Sprachen der Muslime. Grundsätzlich galt im osmanischen Reich eine gelebte Sprachenvielfalt, so dass Übersetzer zu den etablierten Rechtsfiguren im Gerichtssaal gehörten.

25Roland FRITZ, Präsident des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main und Mediator, machte sich stark für eine „Gerichtsinterne Mediation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“. Ein Paradigmenwechsel lasse sich für die bundesrepublikanische Streitkultur ausmachen. Dies könne man durch die tatsächlichen konsensualen Entwicklungen, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2007), die EU-Mediationsrichtlinie (2008) und ein Anwachsen des Themas im Schrifttum dokumentieren. Dabei gehe es weniger um (von IHERINGS) Kampf um das Recht, sondern hin zu mehr konsensualen Entscheidungen. Diese, namentlich die Mediation, diene in besonderem Maße dem Rechtsfrieden und führe zu einer bürgernäheren Streitkultur und damit langfristig zu einer Entlastung der Justiz. Aus Anlass der guten Erfahrungen mit der richterlichen Mediation in Hessen und in anderen Modellprojekten fordere er einen „Gerichtsverbund richterliche Mediation“, in dem die kontinuierliche Weiterentwicklung und Verbesserung sowie ein Wissens- und Erfahrungstransfer gewährleistet werden könnten. Da die richterliche Mediation in Konkurrenz zur richterlichen Tätigkeit stehe, biete allein die Methode der Kurzzeit-Mediation eine Gewähr dafür, dass richterliche Mediation auch zukünftig angeboten werde. Da bisher vor allem die Justizverwaltung den hohen Zeitumfang einer autonomen Mediation kritisierte, böte die Kurzzeit-Mediation mit ihren kürzeren Phasen und dem abgesteckten Zeitrahmen für die Konfliktlösung den effizienteren Weg. Vorgeschlagen wurde zudem, die Modernisierungsoffensiven der Justiz der vergangenen Jahre (wie etwa Neue Verwaltungssteuerung, e-justice) um eine „Modernisierungsoffensive konsensuale Streitschlichtung“ zu ergänzen. Hier sei Mediation in der Richterausbildung stärker zu berücksichtigen, da die Richterschaft grundsätzlich positiv auf Mediation reagiere. FRITZ unterstrich, dass die mediativen Kenntnisse und Techniken in jeder Phase eines herkömmlichen Gerichtsverfahrens nutzbringend eingesetzt werden könnten. Richterliche und außergerichtliche Mediation seien keine „feindlichen Brüder“. Soweit sie gelegentlich miteinander konkurrierten, profitiere die außergerichtliche von der richterlichen Mediation. Abschließend skizzierte FRITZ die Zukunftsvision eines „Frankfurter Streitschlichtungszentrum“, in dem die vielfältigen Erfahrungen und Kenntnisse über konsensuale Streitschlichtung gebündelt und mit dem den Konflikt-Betroffenen ein umfassendes Streitschlichtungsangebot unterbreitet werden könnte.

26In der Diskussion begrüßte die Praxis die Kurzzeit-Mediation, da Mediation in der Regel von Mandanten als langwieriges Verfahren gesehen werde. Dennoch könne ein kurzzeitiges Verfahren nur dann gestaltet werden, wenn ausschließlich die sachlichen Interessen beleuchtet würden. Hingegen müssten in der Praxis häufig und unter hohem zeitlichen Aufwand gerade die wechselseitige Verweigerung von Anerkennung sowie öffentliche Diffamierung mitbehandelt werden. In verwaltungsrechtlichen Fällen hingegen ohne solche Schwierigkeiten böte sich die Kurzzeit-Mediation tatsächlich an. Diskutiert wurde zudem, dass der Paradigmenwechsel das Strafrecht mit Ausnahme des Täter-Opfer-Ausgleichs, wo Mediation eingesetzt würde, nicht erfasst habe: Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ließe sich in der staatlichen Perspektive nicht im Wege der konsensualen Streitschlichtung erreichen, auch wenn dies aus der Opferperspektive anders aussehen könne. Im Blick zu behalten seien jedoch Entwicklungen zum strafrechtlichen Deal, der, anders als der Täter-Opfer-Ausgleich, ohne Opfer verhandelt werde.

27Der Beitrag von Moritz BÄLZ (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) „Reformieren was andere als Modell preisen? – Zum Verhältnis gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung in Japan“ führte in die Neubewertung gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung in Japan ein.

28Japan weise eine geringe gerichtliche Prozessdichte auf und eine lange, wenn auch nicht kontinuierliche Tradition außergerichtlicher Streitbeilegungsmechanismen. Dies sei in der Vergangenheit häufig als Ausdruck einer kulturellen Präferenz für einvernehmliche Konfliktlösungen gedeutet und zumeist positiv bewertet worden. Demgegenüber habe sich die Kommission für die Reform des japanischen Justizwesens 2001 zumindest teilweise einer Sichtweise angeschlossen, die weniger kulturelle Prägungen der Konfliktparteien als vielmehr institutionelle Defizite der japanischen Justiz für die geringe Zahl streitiger Gerichtsverfahren verantwortlich mache. Zu diesen Defiziten gehörten vor allem die Personalknappheit der Gerichte und die lange Verfahrensdauer. Mit der Justizreform sei zudem ein Paradigmenwechsel angekündigt worden: Staat und Gesellschaft stehe eine erhöhte Internationalisierung, Deregulierung und Individualisierung bevor – und daher sei mit erhöhten (Prozess-) Auseinandersetzungen nicht nur zu rechnen, diese seien vielmehr auch erwünscht. Ziel der Reform sei daher auch eine Deregulierung der Verwaltung und eine Verschiebung hin zu mehr Streitschlichtung. Dementsprechend tariere gegenwärtig eine umfassende Justizreform auch das Verhältnis zwischen gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung neu aus. Sie ziele darauf, einerseits den Zugang zu und das Verfahren vor den staatlichen Gerichten zu verbessern, andererseits Elemente der außergerichtlichen Streitbeilegung zu stärken und auszubauen. Mit dem 2007 erlassenen Gesetz zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung und einem Zertifizierungssystem habe sich der Gesetzgeber für eine Verrechtlichung der Mediation ausgesprochen, auch wenn die Mediation keine Zulassungsvoraussetzungen verlange. So stehe eine Deregulierung der Verwaltung einer Verrechtlichung der außergerichtlichen Mediation gegenüber. Unter der Devise „mehr Gericht – weniger Verwaltung“ könne es daher nicht um die Frage „mehr oder weniger Staat“ gehen, da es sich um eine Verschiebung zwischen den Gewalten handele.

29In der Diskussion wurden vor allem die staatlichen Verschiebungen als Governancefragen diskutiert. Das japanische Beispiel zeige statt einem Weniger oder Mehr an Staat vielmehr einen Umbruch von staatlicher Gewalt, welche als Hypothese für Veränderungen bei (außer-) gerichtlichen Streitbeilegungen fruchtbar gemacht werden könne.

30Martin FLECKENSTEIN (Berlin) referierte aus anwaltlicher Perspektive „Strategien zur Vermeidung von Verwaltungsprozessen und außergerichtliche Konfliktlösungsmodelle im öffentlichen Baurecht“. Es seien vor allem die baurechtlichen Fälle ohne Bebauungsplan, also im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB), bei denen Gerichtsprozesse vermieden werden könnten und die außergerichtliche Streitbeilegung erfolgverspechend sei. Die hohen Kosten der Bauinvestitionen würden durch lange Verfahrensdauern dort potenziert, wo sie bei fehlender Rechtsprechung oder Gesetzgebung etwa bei der Erschließung von Verkehrsströmen einen besonders langen Klageweg antizipieren ließen. Ebenso könnten politisch kontroverse Diskussionen um Gentrifizierung Verwaltungsprozesse belasten und damit in die Länge ziehen. Es seien solche Fälle, in denen Fleckenstein nach durchlaufenem Widerspruchsverfahren konsensuale Streitschlichtungsverfahren für vorzugswürdig hält. Außerdem empfehle sich der städtebauliche Vertrag (§ 11 BauGB) gerade für nicht typische baurechtliche Fälle als Schlichtungsinstrument. Auch in den Fällen rechtshängiger Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Bebauungsplänen vor dem erstinstanzlichen Oberverwaltungsgericht (§ 47 VwGO) sieht Fleckenstein Chancen für eine konsensuale Streitschlichtung. Dazu gehörten die Fälle, in denen Bebauungspläne für gerichtlich unwirksam erklärt und ein neuer Bebauungsplan behördlich vorbereitet werde. Hier rät FLECKENSTEIN, diese Zeit als Spielraum, der sich durch die Verfahrensdauer ergebe, zur Heilung zu nutzen. Auch in den Fällen, in denen die Dichte des inhaltlichen Prozessstoffes für ein aufwendiges Verfahren sorge, könne ein konsensual beantragtes zwischenzeitliches Ruhen des Verfahrens außergerichtlich genutzt werden. FLECKENSTEIN wies jedoch auch auf die Grenzen der Mediation hin, die bei besonders starren Fronten zu keinem Zeitpunkt mehr möglich sei. Dies sei bei Konflikten um Eigentümerrechte nicht unüblich. In Anbetracht dessen, dass Bebauungspläne regelmäßig Fehler aufwiesen und lange Verfahrensdauern nach sich zögen, plädierte FLECKENSTEIN für eine vermehrte konsensuale Streitbeilegung.

31Die Diskussion bestätigte, dass sich grundsätzlich jeder Zeitraum in allen Verfahren für eine Mediation anbiete, jedoch weiterhin zwischen den Rechtsgebieten differenziert werden müsse. Grundsätzlich stehe eine Emotionalisierung einer großen Anzahl vom Baurecht Betroffener einer Mediation nicht entgegen, wie beispielsweise auch die erfolgreiche Mediation nach großen Verkehrsunfällen zeige. Diskutiert wurde auch die Möglichkeit, die Komplexität solcher Verfahren bei einer großen Zahl von Betroffenen zu reduzieren. Unter der Voraussetzung der Akzeptanz aller bedürfe es hier allerdings einer Bearbeitung in mehreren Projektstufen mit mehreren Mediatoren, Experten und Lenkungsgruppen. Auch die Sach- und Rechtskunde der Mediatoren, die in einigen Fällen prominente Politiker seien, wurde unter der Frage „Jurist oder nicht?“ diskutiert.

32Miloš VEC (Max- Planck- Institut für europäische Rechtsgeschichte) zeigte in seinem Vortrag „Normativierung zwischenstaatlicher Konfliktlösung? Fragen der Völkerrechtsgeschichte an die Internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts“ die lange Tradition der außergerichtlichen, sprich diplomatischen Streitschlichtung im Völkerrecht, deren vielfältiges Instrumentarium für die Konfliktforschung fruchtbar gemacht werden könne.

33Der Wunsch der Völkerrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, sich dem staatlichen Zivil- und Strafrecht anzugleichen, sei mit der völkerrechtlichen Vergerichtlichung im Gefolge der Haager Konferenzen (1899, 1907) und der Londoner Seerechtskonferenz (1908/1909) erstmals erfüllt worden. Die Vergerichtlichung sei als Fortschrittsgeschichte gefeiert und wenig Zweifel an den gerichtlichen Konfliktlösungsmechanismen im Völkerrecht geäußert worden. Dabei verfüge das Völkerrecht schon seit je her über außergerichtliche Instrumente und Institutionen wie Unterhandlungen, Vermittlung, Untersuchungskommissionen oder Schiedsgerichte. Diese seien aufgrund des Konvergenzstrebens jedoch als Normdurchsetzungsschwäche gesehen worden. In den vergangenen Jahrhunderten, insbesondere in der Neuzeit sowie der juristischen Zeitgeschichte sei dabei eine signifikante Verdichtung der Regelungen, eine Verrechtlichung (VEC bevorzugt begrifflich Verregelung) oder Normativierung des Völkerrechts zu beobachten, ebenso wie eine neue Variante der Juridifizierung, wonach neue Institutionen gegründet würden, die sich dezidiert und ausschließlich der völkerrechtlichen Konfliktlösung widmeten. Im Vergleich mit den weiteren Gebieten staatlichen Rechts bedeute die Juridifizierung, dass die völkerrechtliche Konfliktlösungen stärker in den Händen der Staaten als Parteien liege und diese zumeist stärker in das Verfahren eingebunden seien. Die Vollstreckung bereite besondere Probleme, und die Lösungen bestünden oft nur sektoral und seien themen- oder fallspezifisch ausgeprägt. Die Juridifizierung bleibe damit klar hinter den nationalen Regelungsbereichen zurück. Doch statt von dem Völkerrecht lediglich als defizitärem Modell auszugehen, weise es Eigentümlichkeiten auf, die positiv zu würdigen und von besonderem Interesse für die Frage der außergerichtlichen Streitbeilegung seien. VEC nannte die Vielfalt an Instrumenten in der Konfliktprävention, vor allem die zwischenstaatliche Kommunikation in Form von Diplomatie und Abkommen. Damit sei das Völkerrecht gerade nicht wegen seiner Konvergenz zum staatlichen Recht hervorzuheben, sondern wegen der Differenz im Umgang mit Konflikten.

34In der Diskussion wurde die Konfliktprävention als Teil der Fragestellung begrüßt – Streitbeilegung beginne nicht erst mit der Suche nach der Konfliktlösung. Auch habe dieser Beitrag die Begrifflichkeiten von Vormorderne und Moderne in Frage gestellt. In der Diskussion wurde die Verrechtlichung als Begriff auf mehreren Ebenen in Frage gestellt: Welches „Recht“ sei hier gemeint? Könne mit Verrechtlichung die Vielfalt gerichtlicher Institutionen erfasst werden? Allseits Zustimmung fand, dass die Dichotomie von „staatlich“ und „nichtstaatlich“ hier verfehlt sei, vielmehr trügen im Völkerrecht Konzepte von Autorität und Reziprozität.

35In der abschließenden Podiumsdiskussion, moderiert von Joachim RÜCKERT (Johann Wolfgang Goethe- Universität, Frankfurt am Main), zu den „Erkenntnisinteressen aus der Praxis“, ermöglichte der Vergleich mit den USA durch Isabella ANDERS-RUDES, Fachhochschule Frankfurt am Main, die Einsicht, dass es weder eine gesetzgeberische noch eine kulturelle Steuerung sei, die in den USA die außergerichtliche Streitbeilegung vorantreibe. Die Unwägbarkeiten eines Gerichtsverfahrens mit Jury (auch im Zivilrecht), die Öffentlichkeit und Preisgabe von unternehmerischen Geheimnissen, die Länge der Verfahren und die hohen, gesetzlich nicht geregelten Anwaltskosten erklärten, warum die außergerichtliche Streitbeilegung dort frühe und breite Resonanz erhielt. Eine Mediationsausbildung an Fachhochschulen und Universitäten auch in Deutschland wäre eine lohnende Möglichkeit, den Transfer zwischen Wissenschaft, Praxis und Lehre zu stärken.

36Peter COLLIN (Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte) sieht die Vorteile von gesellschaftlicher Selbstorganisation durch Einrichtungen wie nichtstaatliche Kammern oder Schiedsgerichte in öffentlichen Genossenschaften darin, dass Konfliktlösungsmacht außerhalb des Staates nicht nur die Behandlung von privaten Konfliktfällen ermögliche, sondern auch soziale und ökonomische Spannungslagen löse. Von Vorteil seien diese Institutionen für den, der sie einrichte: Für den Staat brächten sie eine Entlastung, für die organisierten gesellschaftlichen Partikularinteressen erlaubten sie die Freiräume, Konflikte nach eigenen Prämissen zu gestalten und für die Justiznutzer ermöglichten sie wegen ihrer Sachnähe Zeit- und Geldersparnis und das Einbringen sozio-emotionaler Fakten, die eine Rationalität eigener Art darstellten.

37Birgit GANZ-RATHMANN illustrierte als Leiterin des Bereichs Gesundheit und Soziales der Deutschen Bahn AG und als Ombudsfrau das Streitlösungspotential der betriebsinternen Schlichtung unter Mitarbeitenden. Diese biete sich vor allem dann an, wenn Konflikte nicht oder nicht leicht justiziabel seien. Der Vorteil dieser Schlichtung sei die Erfahrung für Mitarbeitende, dass Konflikte nicht per se negativ seien, sondern erst dann, wenn sie sich verselbständigten oder verstetigten. Ein weiter Vorteil sei auch, dass man die Konflikte dahin zurückgeben könne, wo sie entstanden seien und Eigenverantwortlichkeit gestärkt werden könne. Außerdem ermögliche sie den Blick, die betriebsinternen Prozesse als Verursachungsquelle zu analysieren und nicht nur zwischen den beteiligten Parteien zu suchen. In der Diskussion wurde die Funktion des Rechts als Drohkulisse angeführt, wonach ein Umschwenken der Kommunikation von „Sozial“ auf „Rechtlich“ als Drohung jederzeit möglich sei.

38Andreas FAHRMEIER, Professor für Neuere Geschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, verwies auf die Unterschiedlichkeit der Streitschlichtung in England und vielen kontinentaleuropäischen Ländern des 19. Jahrhunderts, die eine örtliche und sachliche Zuständigkeit und einen Instanzenzug aufwiesen. In England hätten die Kläger jedoch die Konkurrenz zwischen den englischen Gerichtshöfen nach den Regeln des Common Law (King’s Bench) bzw. der „Gerechtigkeit“ (Chancery, Exchequer) über ähnlich gelagerte Fälle für sich nutzbar machen können. Das habe potentiellen Klägern eine Wahlmöglichkeit zwischen außergerichtlicher Konfliktlösung und unterschiedlichen Gerichten geboten, die mehr oder weniger Verlässlichkeit, Schnelligkeit und „Gerechtigkeit“ zu bieten schienen. Bemerkenswert sei dabei, dass die Entscheidungen des englischen alternativen Urteilssystems der equity courts höher bewertet worden sei als die ordentlicher Gerichte („equity schlägt das common law“).

39Karsten-Michael ORTLOFF sah als Mediator den Mehrwert einer konsensualen Schlichtung darin, dass Parteien in einem vertraulichen Verfahren kreativ sein können. Das heiße, dass sie oftmals Ideen hätten, die sie vor einem Richter oder einer Richterin mit Bedacht auf die Entscheidungsfolgen nicht äußern würden. Auch sprach er sich trotz aller Vorteile der Mediation dafür aus, dass diese nicht angeordnet werde, denn Parteien müssten aus der Mediation auch aussteigen können. Abschließend macht er sich für die Formulierung stark, dass Mediation im Lichte des Rechts, nicht in seinem Schatten agiere.

40Insgesamt zeigte sich, dass sich zahlreiche Felder ergaben, auf denen (historische) Wissenschaft und (juristische) Praxis gemeinsame Erkenntnisinteressen verfolgen und in einen für beide Seiten fruchtbaren Dialog eintreten können; dazu bedarf es freilich einer Engführung der Fragestellungen und analytischer Begrifflichkeiten, über die dieser Dialog entwickelt werden kann. Der Workshop könnte ein Beginn eines solchen interdisziplinären und Wissenschaft und Praxis verbindenden Gesprächs gewesen sein.

Beitrag vom 28. Oktober 2010
© 2010 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
28. Oktober 2010

  • Zitiervorschlag Nahed Samour, „Gericht oder nicht?“ Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung. Vormoderne Alternativen – Alternativen in der Moderne Interdisziplinärer Workshop zur Konfliktforschung (Tagungsbericht) (28. Oktober 2010), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net2010-10-samour