Christoph Strohm (Hrsg.):

Martin Bucer und das Recht. Beiträge zum internationalen Symposium
vom 1. bis 3. März 2001 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden
(= Travaux d'Humanisme et Renaissance; Bd. CCCLXI),
Genf: Droz 2002, XII + 292 S., ISBN 2-600-00640-0.


Rezensiert von: Isabelle Deflers (Centre Marc Bloch, Berlin)
 
Seit den letzen Jahrzehnten setzt sich die kirchenhistorische Forschung mit dem Thema 'Recht und Jurisprudenz im Bereich des Protestantismus', vor allem was die von der calvinistischen Reformation beeinflussten Juristen betrifft, intensiver auseinander. Diese neue Orientierung stimmt mit rechtshistorischen Untersuchungen wie den von Michael Stolleis verfassten Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts 1 überein. Hier wird die bedeutende Rolle der protestantischen Juristen für die Entwicklung des ius publicum, vor allem im 17. Jahrhundert und unter der landesherrlichen Hoheit, hervorgehoben. In diesem Zusammenhang sind auch drei Forschungsprojekte zum Thema "Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus" im Dezember 2000 an der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden begründet worden 2. Sie befassen sich mit der gemeinsamen Rolle der Konfessionalisierung bei der Formierung der Moderne und versuchen, die Eigenart jeder der drei Hauptkonfessionen in diesem Bereich hervorzuheben. Unter ihnen setzt sich das von Christoph Strohm (Bochum) geleitete Forschungsprojekt mit dem Thema "Recht und Jurisprudenz im Bereich des reformierten Protestantismus 1550-1650" auseinander. In diesem Rahmen wurde im März 2002 ein internationales Symposium organisiert, das sich mit der Bedeutung der Persönlichkeit von Martin Bucer für die Entwicklung der theologischen Lehre Calvins auch in politischer Hinsicht auseinander gesetzt hat.

1
Der Straßburger Reformator hat in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts mehrere Schriften über die Rolle der weltlichen Obrigkeit bezüglich der Betreuung der neu gegründeten evangelischen Kirche und der möglichen Ausbreitung ihrer 'neuen' Lehre verfasst. Auch durch seine Äußerungen über das römische Recht übte er einen breit angelegten Einfluss auf die calvinistisch orientierten Juristen wie Johannes Althusius aus. Diese Prägung lässt sich in bestimmten Problematiken wie u.a. in ihrer Auffassung der weltlichen Obrigkeit, der Rolle der Ehe als ursprüngliche Institution des zwischenmenschlichen Lebens, oder auch in der damals so folgenreichen Frage des Widerstandsrechts deutlich erkennen 3.

2
Die bedeutende Rolle der Rezeption des römischen Recht für die Entwicklung ihres Obrigkeitsverständnisses, die wiederum zur Verstärkung der territorialen Herrschaft führte, war für Martin Bucer ein wichtiges Thema, wie es dies auf der Seite der evangelischen Reformatoren auch für Melanchthon gewesen war. Dem Symposium gelang es, die von Bucer zwischen 1530 bis 1551 benutzten Ausgaben der Grundtexte des römischen Rechts festzustellen und Gregor Haloander als Herausgeber zuzuweisen. Dadurch wurde u.a. sichtbar, wie schnell Bucer die darin erhaltenen neuen Erkenntnissen rezipiert hat (Beitrag von Cornel A. Zwierlein, 29-81).

3
Wie bei den Lutheranern bildet für die calvinistisch geprägten Theologen und Juristen die Frage des Widerstandsrechts ein weiteres Feld ihres Rechtsdenkens. Als im Anschluss an den Augsburger Reichstag 1530 der Schmalkaldische Bund von den hessischen und kursächsischen Herrschern gegen den Kaiser gegründet wurde, nahmen sich die am ihrer Seite stehenden Juristen und Theologen zur Aufgabe, die Anwendung des Widerstandrechts zu legitimieren.

4
Ein weiterer Untersuchungsgegenstand, der im Rahmen dieses Symposiums betrachtet wurde, betrifft die Frage des Verhältnisses zwischen biblischem Recht und dem Naturrecht in der Rechtsauffassung Bucers. Im Gegensatz zu Luther, aber ähnlich wie Melanchthon, erkannte der Straßburger die Gültigkeit des kanonischen Rechts solange an, wie dies mit Gottes Wort übereinstimmte. Andererseits unterscheidet sich Bucer von Melanchthon deutlich, indem er in seinen Schriften die Betonung entweder auf das biblische oder das römische Recht legt und nicht auf das Naturrecht, das bei ihm ein relativ geringe Rolle spielt. Der Sammelband umfasst vierzehn Beiträge, die sich den skizzierten drei Themenkomplexen widmen.

5
Dieter Wyduckel (Dresden) fasst in seinem einleitenden Vortrag, "Recht und Jurisprudenz im Bereich des Reformierten Protestantismus", die wichtigsten Merkmale der Rechtsauffassung unter den reformierten Protestanten zusammen und bietet damit einen guten Einstieg in die Problematik (1-28).

6
Der zweite Beitrag von Cornel A. Zwierlein (München) unter dem Titel "Reformation als Rechtsreform. Bucers Hermeneutik der lex Dei und sein humanistischer Zugriff auf das römische Recht" arbeitet die Beschäftigung Bucers mit dem römischen Recht und dessen semantischer Rezeption heraus. Die ersten Spuren von römisch-rechtlichen Zitaten finden wir bei Bucer erst 1527 in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium. Durch das Nebeneinander verschiedener Begriffe aus unterschiedlichen Geistesbereichen und auch Rechtstraditionen entwickelt Bucer eine "eklektische Rechtssemantik", die am Beispiel seiner 1544 und 1545 verfassten politischen und publizistischen Schriften deutlich zu Tage tritt (31-39). Unter diesem Eklektizismus verborgen wird aber die Gedankenentwicklung des Reformatoren und vor allem die Gründe für seinen immer öfter Rückgriff auf (römisches) Recht erkennbar. Hier findet er die rechtliche Basis seiner Naturgesetzeslehre, für deren Entwicklung er in Anlehnung an Melanchthon auch die scholastische Tradition der Naturrechtslehre mit der Dreiteilung der leges divinae, naturae, und humanae übernimmt. Dennoch spielt bei Bucer die Gegenüberstellung vom menschlichen und göttlichen Gesetz eine stärkere Rolle als das Naturrecht. Da er keine Zwei-Reiche-Lehre im Sinne einer strikten Trennung zwischen Gesetz und Evangelium erkennt, benötigt er das Naturrecht nicht "als Medium des göttliche Funkens im regnum mundi" (48). Hier wird gezeigt, inwiefern seine weit ausgebreitete Definition des lex Dei zur "enormen Freiheit" bei der Feststellung der anzuwendenden leges humanae führt.

7
Weiter wird der Weg nachgezeichnet, den Bucer durch seine Lektüre der humanistischen Rechtsgelehrten, die damals vor allem an der Rechtschule von Bourges (wo Calvin u.a. bei Alciatus das Recht studiert hat) gewirkt haben, zur Anerkennung des römischen Rechts gefolgt ist (50-57). Dadurch wurden ihm die Neuerungen der Ausgaben Haloanders des Corpus iuris Justinians bekannt. Zwierlein erklärt, wie diese Rechtstexte und ihre neue Methode in Bucers 'juristischen’ Lernprozess eingepasst werden könnten (61-69). Zum Schluss wird das Verdienst Bucers als autodidaktischer Verfasser von politisch-juristischen Schriften und seine für die reformierte Lehre wesentliche Bedeutung als "Reichspolitiker" hervorgehoben und an seinem Beispiel das damals enge Verhältnis zwischen Religion und Jurisprudenz betont (73). Im Anhang werden einige Nachweise für die von Bucer benutzten Ausgaben der römischen Rechtstexte angegeben (75-81).

8
In seinem Beitrag "Bucer’s view of Roman and Canon Law in his exegetical writings and in his Patristic Florilegium" analysiert Irena Backus (Genf), welche Rolle diese beide Gesetzgebungen in Bucers Reflexion über das Recht gespielt haben (83-99). Am Beispiel seiner Verwendung des kanonischen Rechts in seinem Florilegium patristicum, das Bucer zwischen 1538 und 1548 verfasste, zeigt Backus, dass der Straßburger Reformator dem Corpus iuris canonici eine untergeordnete Stellung gegenüber dem römischen Recht zuwies. Nun wird das kanonische Recht in seiner Rolle als Kompilation moralischer Sätze begrenzt, während in seinen Kommentaren zu den Römerbriefen der göttliche Ursprung des römischen Rechts immer wieder betont wird. Dadurch erhielt die weltliche Macht eine verstärkte Legitimation auch gegenüber dem Kaiser. Die Begrenzung der Machtausübung, so wie Bucer sie definierte, beeinflusste u.a. Petrus Martyr Vermigli, der mit dem Hinweis auf Ulpians Definition von merum imperium behauptete, dass die unterordnete Obrigkeit das Recht hatte, sich gegen maßlose übergeordnete Macht zu wehren, wenn diese die Grenzen ihrer Macht überschritten hätte. Und dieses Widerstandrecht sei auch den Kurfürsten gegen den römischen Kaiser im Römer 13 zuerkannt (99).

9
In seinem Beitrag über "Martin Bucer and the Decretum Gratiani" zeigt David F. Wright (Edinburgh), inwiefern sich der kompromissbereite Bucer auf das Decretum, das von den Reformatoren als eine päpstliche Gesetzgebung angesehen wurde, weiterhin berief, es jedoch mit einer starken Differenzierung je nach Kanon für gültig anerkannte, solange dessen Rechtssprüche mit Gottes Worte übereinstimmten (101-112).

10
Cornelis Augustijn (Amsterdam) erläutert in seinem Beitrag über "die Berufung auf kanonisches und römisches Recht auf dem Regensburger Reichstag 1541: die Abusuum [...] indicatio", inwieweit Bucer zusätzlich zu dem Corpus iuris civilis und dem Corpus iuris canonici die Editionen von Konzilienbeschlüssen studierte, um sie als Argumente zugunsten der reformierten Seite während der Religionsgespräche im Rahmen seiner religiösen Reformvorschläge gelten zu lassen. (113-121)

11
Diese Problematik wird in dem folgenden von Christoph Strohm verfassten Beitrag über "die Berufung auf kanonisches Rechts, römisches Recht und Reichsrecht in der Auseinandersetzung um die Kölner Reformation 1543-1546" weiterhin vertieft. Die Intensivierung der Bezüge auf die römischen, aber vor allem auf die kanonischen Sprüche, die erst Mitte der dreißigen Jahre in Bucers Werken erschienen, erreicht in seinen Schriften zur Kölner Reformation ihren Höhenpunkt. Hier wird zum ersten Mal auch das Reichsrecht als Verteidigungsmittel verwendet, was Strohm für die Entwicklung des öffentlichen Rechts als eigenständige Disziplin am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts vor allem bei den protestantischen Juristen als charakteristisch bezeichnet. Am Beispiel der Auseinandersetzungen um den Kölner Reformationsversuch, wird gezeigt, inwiefern die Konfessionsspaltung eine "Juridifizierung des öffentlichen Diskurses" mit sich gebracht hat (123-145).

12
Diese Thematik wird mit dem Beitrag von N. Scott Amos (Locust Grove, Virginia/USA), "The Use of Canon and Civil Law and their Relationship to Biblical Law in De Regno Christi", der sich mit dem letzten bedeutsamen Werk Bucers im Jahre 1550 beschäftigt, abgeschlossen (147-165).

13
Weiterhin weist Gottfried Seebaß (Heidelberg) auf "Martin Bucers Beitrag zu den Diskussionen über die Verwendung der Kirchengüter" hin, um die Bedeutung dieser bisher vernachlässigten Thematik der Säkularisierung für die protestantische Geschichtsschreibung hervorzuheben (167-183).

14
Mehrere rechtshistorische Beiträge widmen sich anhand unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände der wichtigen Frage des damaligen Verhältnisses von Recht und Religion 4.

15
Herman J. Selderhuis (Apeldoorn) untersucht "das Eherecht Martin Bucers" (185-199), Matthieu Arnold (Straßburg) behandelt unter dem Titel "L’équité chez Martin Bucer" Fragen der Billigkeit (201-214), der Thematik "Recht und Kirchenzucht bei Martin Bucer" nimmt sich Willem van’t Spijker (Apeldoorn) an (215-230). Abschließend behandelt Andreas Gäumann (Glarus) Fragen zu der damals so folgenreichen Problematik der Legitimierung und Begrenzung des Widerstandsrechts (231-244).

16
Im Blick auch auf die Bildungsgeschichte behandelt Mathias Schmoeckel (Bonn) in seinem Beitrag "Recht durch Erziehung – Gesetz zur Bildung. Usus legis Reformatorum" zunächst die Definition und die Rolle der elf Gesetze, die Bucer 1550 in seiner Programmschrift, De regno Christi, aufgelistet, aber auch in seinen früheren Schriften schon erarbeitet hatte. Hier lassen sich zahlreiche Ähnlichkeiten und Unterschiede mit Melanchthons, Bugenhagens und Luthers Lex-Verständnis feststellen (251-262). Durch seine kurze semantische Analyse des Begriffes Lex sowohl bei den Theologen als auch bei den Juristen wird der Umfang dieser interdisziplinären Problematik bezüglich der Terminologie deutlich. Zuletzt wird die Rolle der Kirchenordnungen und anderer Gesetzbücher als Schulbuch bzw. Erziehungsmittel hervorgehoben und die enge Verbindung zwischen Recht und Religion in dieser Hinsicht erneut betont (245-270).

17
Zuletzt wird die oft vertretene Meinung widerlegt, nach der die Konfessionalisierung als Endepoche der einheitlichen respublica christiana zur nationalen Zersplitterung Europas in politischer, kultureller und kirchlicher Hinsicht geführt habe. Unter den Vertretern einer weiteren internationalen Kooperation, die die grenzüberschreitende religiöse, kirchliche und politische Zusammenarbeit weiterhin vorantreiben wollte, wird die Rolle des Straßburger Reformators hervorgehoben. Mit seinem Beitrag über "Martin Bucer und die Erneuerung der Kirche in Europa" (271-283) schließt Martin Greschat (Münster) diesen gelungenen Sammelband, dessen interdisziplinärer Ansatz die neue Orientierung in der heutigen Geschichtsschreibung des Protestantismus und in der Differenzierung der Rolle der Konfessionalisierung widerspiegelt. 18
   

Fußnoten:

1 Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990.

2 Mit seinen neuen Forschungsprojekten schlägt die Johannes a Lasco Bibliothek in Emden neue Wege ein, was die interdisziplinäre Betrachtung der Konfessionalisierung und deren vielfältigen gesellschaftlichen Folgen betrifft.

3 Heinz Scheible, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546, Gütersloh 1969.

4 Über diese Themen gibt es eine unfangreiche Literatur, von der die wichtigsten Titel im Sammelband zu finden sind.

 

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Diese Seite ist vom 6. Januar, 2003