Zitiervorschlag / Citation:

Carsten Jahnke / Antjekathrin Graßmann (Hg.),

http://www.forhistiur.de/zitat/0503fischer.htm

Seerecht im Hanseraum des 15. Jahrhunderts.

 

Edition und Kommentar zum Flandrischen Copiar Nr. 9. Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, hg. v. Archiv der Hansestadt, Reihe B, Band 36, Lübeck 2003. 148 S., € 15,00, ISBN 3-7950-0476-4.

 

Rezensiert von: Carsten Fischer, Edinburgh

 

Vergleichenden Ansätzen ist in der Rechtsgeschichte im Laufe der letzten Jahre zunehmend Aufmerksamkeit zuteil geworden1. Dabei ging es in der öffentlichen Debatte vor allem um das Verhältnis von Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zu- und ihren Nutzen füreinander2. Für dieses rege Interesse an der Methodik3 vergleichenden rechtsgeschichtlichen Arbeitens dürfte wohl vor allem die Suche nach europaweiten gemeinsamen Rechtsgrundlagen als Basis eines zukünftigen europäischen Zivilrechts verantwortlich zeichnen. Dabei sollte diese Methodenfrage für den Rechtshistoriker nicht neu sein, bietet sich doch seit jeher ein vergleichendes Vorgehen an den Schnittpunkten verschiedener Rechtskreise oder -ordnungen an, es ist häufig notwendig und fruchtragend4. Das Sonderprivatrecht des Seerechts ist ein solcher Kollisionsort5. Dort, wo - insbesondere vor dem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hintergrund - bedeutsame Distanzen zurückgelegt wurden, mussten damit zumeist auch entsprechend viele Rechts-Räume durchquert werden. Mit den Gütern wurden nicht selten auch Rechtsordnungen transportiert. So begünstigte z.B. die Vergleichbarkeit der besonderen mit der Seefahrt verbundenen Gefahrenlagen und daraus sich ergebenden Rechtsprobleme vom 14. Jh. an die Rezeption des französischen Seerechts der Rôles d’Oléron in Nordwesteuropa. Gleichzeitig wurde mit der Ausbreitung der ständigen Handelsniederlassungen der Hansen auch hansisches Recht in die Gastländer verpflanzt. Auf das dadurch hervorgebrachte rechtliche Nebeneinander in Seehandelszentren vermag der Flandrische Copiar Nr. 9 nun mehr Licht zu werfen. Bei ihm handelt es sich um eine Privilegien- und Rechtssammlung des Brügger Hansekontors, die damit an einem der Berührungspunkte nord- und westeuropäischer Seerechte entstand. Mit dem zu besprechenden Titel legen die Herausgeber jetzt eine Edition, Übersetzung und wissenschaftliche Einordnung dieser der Forschung bislang nahezu verborgen gebliebenen frühneuzeitlichen Seerechtsquelle vor.

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Zwischen 1475 und 1480 angelegt und bis ins 17. Jh. fortgeführt enthält der Copiar nicht nur Seerecht, sondern daneben auch weitere Rechtsquellen, darunter Statuten und Privilegien der flandrischen Grafen aus dem 14. Jh., die allerdings keine Aufnahme in die Edition gefunden haben. Leider erfährt der Leser nicht mehr über diese anderen Bestandteile des Copiars, und ob sie - ggf. anderen Quellen entnommen - bereits ediert worden sind. Einige Informationen zum Inhalt des Copiars jenseits des Seerechts hätten durchaus wertvoll sein können, zumindest hätten sie jedoch die Behandlung des Seerechts abgerundet6.

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Der Seerechtsteil des Flandrischen Copiars Nr. 9 umfasst als für den täglichen Gebrauch bestimmte Rechtssammlung sowohl originär hansisches Recht wie auch nicht-hansische, für den Seehandel von und nach Brügge bedeutsame Rechtsordnungen. Zum ersteren zählen 33 Vorschriften aus den Hanserezessen von 1434, 1441 und 1447, als spezielles brüggisches Hansenrecht zwei Vorschriften zur Einrichtung einer Vigilie zu Ehren auf See gebliebener Hansen und zum Gedenken an die Rückkehr des Kontors von Utrecht nach Brügge 14577 (1485), nachdem Spannungen mit den flandrischen Grafen beigelegt worden waren, sowie die hansische Schifferordnung von 1482. Zur zweiten Gruppe zählen die Ordinancie8, die Vonnesse von Damme9 und Bestimmungen zum Versegelgeld10.

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Dem schön aufgemachten - und dabei günstigem - Band ist eine 8-seitige Anlage beigefügt. Sie enthält qualitativ hochwertige Farbabbildungen von sechs Seiten des Copiars, die durch ihre reiche Ornamentik bestechen und einen schönen Eindruck auch vom kunstgeschichtlichen Wert dieser Vorschriftensammlung liefern. Dieselben Abbildungen sind in schwarzweiß im Hauptband enthalten. Grund für diese Wiederholung mag einerseits die mit der Ablichtung anderer Seiten verbundene Kostenerhöhung, andererseits die Gefahr der Trennung des Heftchens vom Hauptband sein. Beides könnte erklären, warum nicht die Gelegenheit genutzt worden ist, den Lesern ggf. 12 verschiedene Abbildungen des Copiars zugänglich zu machen. Auf zwei Seiten gibt Antjekathrin Graßmann in dieser Anlage einige Hinweise zu Inhalt und buchmalerischer Gestaltung der abgebildeten Auszüge, sowie auf weiterführende Literatur zu den Themen der Flämischen Buchmalerei und den Hansehäusern in Antwerpen und Brügge.

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Der Hauptband dreht sich in einer Einleitung und fünf Abschnitten rund um den Flandrischen Copiar Nr. 9. In der Einleitung klärt Antjekathrin Graßmann über die Beschaffenheit des Copiars, seinen Verbleib im Laufe der Jahrhunderte und die Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihm, sowie über die Entstehungsgeschichte der vorliegenden Edition und Kommentierung auf. Gefolgt wird dieser gelungene Überblick von der Edition und Übersetzung des Copiars, sowie Beiträgen zur Seerechtsgeschichte, dem in der Handschrift enthaltenen Seerecht selbst und den Hansen und Brügge.

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Die Edition des Flandrischen Copiars Nr. 9 (S. 12-46), die Carsten Jahnke besorgt hat, gibt zum einen den Text der 119 im Copiar enthaltenen Vorschriften wieder. 38 Fußnoten erläutern die Anlage des Originals, z.B. dort, wo die drucktechnischen Mittel zu einer genauen Wiedergabe nicht ausreichten, und geben Querverweise zu verwandten Rechtssammlungen. Ferner ist den meisten Vorschriften11 ein kurzer Hinweis auf ihre Vorlage (z.B. die Hanserezesse) bzw. auf Parallelüberlieferungen in anderen Seerechtsquellen vorangestellt, was die Einordnung des Copiars in den zeitgenössischen Rechtsnexus erleichtert.

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Eine weitere Erleichterung für spätere Arbeiten mit dem Copiar stellt seine folgende Übersetzung (S. 47-92) dar. Carsten Jahnke hat sich hier - unter Mitarbeit von Götz Landwehr - nicht mit einer bloßen Übersetzung begnügt, sondern die Regelungen mit ihren Inhalt zusammenfassenden Überschriften versehen und in Fußnoten kurz kommentiert. Hervorgehoben seien die zahlreichen Erläuterungen von seerechtlichen Fachbegriffen, die das Verständnis der Vorschriften erleichtern und erlauben, sich zügig in die Normzusammenhänge einzuarbeiten. Dass leider der letzte Teilsatz der Vorschrift Nr. XIX (S. 55) nicht übersetzt worden ist12, ist angesichts der durchgängig hohen Qualität der Übersetzung zu vernachlässigen.13

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Abgeschlossen wird der Editions- und Übersetzungsteil durch ein Verzeichnis der ebendort zitierten Quellen und Sekundärliteratur. Dabei erhebt insbesondere der Überblick über letztere mit 12 genannten Titeln keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern enthält lediglich Hinweise auf die wichtigste einschlägige Literatur.

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Was die Kommentierung der Edition und Übersetzung durch Carsten Jahnke nicht schaffen kann und soll, wird von Götz Landwehr und Albrecht Cordes in den folgenden beiden Kapiteln nachgereicht.

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Mit dem Seerecht des Hanseraums des 15. Jhs., also der Entstehungszeit des Copiars, beschäftigt sich Götz Landwehr (S. 95-117). Sein gelungener Überblick führt über eine Darstellung der wichtigsten seerechtlichen Normen des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Nord- und Westeuropa zu einer genaueren Darstellung derjenigen Vorschriften, die Aufnahme in den Copiar gefunden haben. In detailgenauer Aufschlüsselung weiß er dabei die verschiedenen Rechtsschichten des Copiars zu trennen und ihre jeweiligen Ursprungstexte aufzuzeigen.

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Ausgehend von dieser Einordnung in den Kontext frühneuzeitlichen Seerechts leistet Albrecht Cordes die juristische Kommentierung der wichtigsten Vorschriften des Copiars selbst (S. 119-144). Da die in ihm enthaltenen Vorschriften mit Ausnahme der Vigilie keine Neuschöpfungen der Brügger Hansen sondern aus verschiedenen, z.T. beträchtlich älteren Seerechtsquellen übernommen sind, reicht die Bedeutung und der Nutzen dieser Interpretation und Kommentierung weit über die Arbeit mit dem Flandrischen Copiar Nr. 9 hinaus. Auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der übrigen Hansegeschichte und dem zeitgenössischen Seehandelsrecht wird sie eine Bereicherung darstellen.

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Der Band schließt mit einem Beitrag Regina Rößners über "Brügge und die Hanse" (S. 145-148), der kenntnisreich das Verhältnis zwischen der Stadt und den Hansen erläutert und damit auch den notwendigen Hintergrund für eine rechtliche Einordnung des Copiars zeichnet.

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Der Gesamteindruck der vorliegenden Ausgabe des Flandrischen Copiars Nr. 9 ist damit der einer "runden Sache". Edition und Übersetzung sind überzeugend besorgt. Die Beiträge Antjekathrin Graßmanns, Götz Landwehrs, Albrecht Cordes und Regina Rößners flankieren aus unterschiedlichen Perspektiven, aber sehr gut aufeinander abgestimmt die Rechtssammlung. Die damit erfolgte textliche Wiedergabe und wissenschaftliche Aufbereitung des Flandrischen Copiars Nr. 9 werden in Zukunft die vergleichende Auseinandersetzung mit der Seerechtsgeschichte Nordwesteuropas um eine bedeutsame frühneuzeitliche Rechtsquelle bereichern.

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Fußnoten:

1 Ein deutliches Zeichen für diesen Trend ist die Errichtung der International Max Planck Research School for Comparative Legal History in Frankfurt/M. (http://www.imprs.uni-frankfurt.de/).

2 Im Folgenden nur eine Auswahl von Beiträgen zum Diskurs über das Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander:

Hein Kötz : Was erwartet die Rechtsvergleichung von der Rechtsgeschichte?, JZ 1992, S. 20-22, und die (bissige) Erwiderung Dieter Simons hierauf: Zwillingsschwestern und Stammesbrüder, RJ 1992, S. 574-579.

Auf dem 32. Deutschen Rechtshistorikertag in Regensburg war eine Sektion dem Thema "Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung" gewidmet. Die Tagungsbeiträge dieser Sektion sind in ZEuP 3/1999, S. 494-569 abgedruckt (Reinhard Zimmermann: Einführung; Mathias Reimann: Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte im Dialog; Axel Flessner: Die Rechtsvergleichung als Kundin der Rechtsgeschichte; Klaus Luig: Was kann die Rechtsgeschichte der Rechtsvergleichung bieten?; Michele Graziadei: Comparative Law, Legal History, and the Holistic Approach to Legal Cultures; Albrecht Cordes: Was erwartet die (mittelalterliche) Rechtsgeschichte von der Rechtsvergleichung und anderen vergleichend arbeitenden Disziplinen?; William Ewald: Legal History and Comparative Law; David Johnston: Roman Law, Comparative Law and Legal History).

Ferner: Kent Lerch: Das Verschwinden der Unterschiede. Vom Nutzen und Nachteil der vergleichenden Methode für die Rechtsgeschichte, RG 3 (2003), S. 38-44.

3Wenn man einigen der Äußerungen folgt (so z.B. Lerch, wie Anm. 2, S. 38 f.; Cordes, wie Anm. 2, S. 547-549.), so zeichnet sich die Rechtsvergleichung allerdings durch das weitgehende Fehlen jeglicher Methodik aus.

4Ein relativ aktuelles Beispiel hierfür ist Albrecht Cordes Suche nach einem gemeineuropäischen mittelalterlichen Handelsrecht ("The search for a medieval Lex mercatoria", Oxford University Comparative Law Forum 2003, http://ouclf.iuscomp.org/articles/cordes.shtml), bei der er im Wege des Vergleichs zwischen der englischen und deutschen Entwicklung eines eigenständigen Handelsrechts den Mythos einer einheitlichen mittelalterlichen lex mercatoria als solchen entlarven kann.

5Als Beispiel für rechtsvergleichendes Arbeiten auf diesem Gebiet mag die an der University of Aberdeen entstandene Dissertation Edda Frankots dienen: Medieval Maritime Law and its Practice in the Towns of Northern Europe: A Comparison by the Example of Shipwreck, Jettison and Ship Collision , Aberdeen 2004 (erhältlich in der Aberdeen University Library; Veröffentlichung im Verlag Brill/Leiden vorgesehen, freundliche Auskunft der Verfasserin.

6 Der Rezensent hat keine Hinweise darauf gefunden, dass der Rest des Flandrischen Copiars Nr. 9 anderweitig ediert worden wäre.

7 Spannungen mit den flandrischen Grafen in den Jahren zuvor hatten zur Verlegung des Kontors von Brügge nach Utrecht geführt. Regina Rößner nennt als Datum der Rückkehr 1485 (S. 146). Dabei handelt es sich vermutlich um einen Druckfehler: Die Vorschrift über die Einrichtung einer Messe zum Gedenken an die Rückkehr stammt aus dem Jahre 1485. In ihr wird als das Datum dieser Rückkehr der 11. August 1457 genannt.

8 Übereinkunft über Rechtsgewohnheiten im Seehandel, die ihren Ursprung in den Hafenstädten der Zuidersee hat, Flandrischer Copiar Nr. 9, S. 105 (Landwehr).

9 Im 14. Jh. entstandene Übersetzung der französischen Rôles d’Oléron ins Flämische, Flandrischer Copiar Nr. 9, S. 108 (Landwehr).

10 Auf den Rôles d’Oléron fußendes Seegewohnheitsrecht zur Erhöhung der vereinbarten Heuer bei Umwegen gegenüber der eigentlich beabsichtigten Route, Flandrischer Copiar Nr. 9, S. 112 (Landwehr).

11 Ausgenommen diejenigen über das Recht des Versegelgeldes, S. 39-40.

12 Vgl. die Parallelvorschrift Nr. III und ihre Übersetzung, S. 12 f. und 48.

13 Zwar sind dem Rezensenten darüber hinaus einige (Druck-)Fehler aufgefallen (S. 51, X, Z. 5: Es müsste "transportierten Getreides" heißen; S. 55, XVII, Z. 1: "ock" dürfte hier wohl eher mit "aber" zu übersetzen sein; S. 58, XXII, letzte Z. (8): es müsste "Gütern" heißen; S. 67, Fn. 46: es fehlt die Angabe des Art. der Ordinancie, auf den verwiesen wird. Dies dürfte Art. 5 (S. 24 f. / 66 f.) sein.; S. 70 / XLVI.: In der ersten Zeile ist ein "mit" überflüssig.; S. 74 / LXVI, Z. 2: ein "er" fehlt; S. 80, LXXX, Z. 9: es müsste "Marktpreis" heißen; im juristischen Kommentar (S. 119-144) müsste es auf S. 121, Z. 4 "Handelsgesellschaft" lauten; auf S. 141 ist in den Ausführungen zum Bergelohn (Z. 1) wohl das "Vonnesse" überflüssig.). Solche wenigen wie kleinen Schwächen vermögen den ansonsten sehr positiven Gesamteindruck der Edition allerdings nicht zu schmälern.

 

 

Betreut vom FHI-Team
Diese Seite ist vom 31. März 2005
Aktualisiert am 5. April 2005